Es riecht nach Papier, nach Büchern und Bildung. "Hier in diesem Raum", sagt Eva Rothkirch von der Berliner Staatsbibliothek, "standen lange die privaten Bestände der Gebrüder Grimm." Dann öffnet sie einen Karton, der sonst bei 18 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit im Magazin aufbewahrt wird – und so stinkendes wie explosives Material enthält.
In ihm liegen Flugschriften aus dem Zweiten Weltkrieg: Hakennasen sind darauf zu sehen, dicke Lippen, fette Bäuche, blonde Arier. So ziemlich das ganze Arsenal der Nazi-Stereotype. Nur haben den Dreck nicht irgendwelche vergessenen Propagandisten gemacht. Zumindest dabei war Henri Nannen, der Gründer des stern. Der NDR hat die Flugblätter von der italienischen Front aus den Jahren 1944 und 1945 nun aus dem Archiv geholt und in einem Youtube-Format für junge Leute gezeigt. "Kann dieser Mann noch ein journalistisches Vorbild sein?", fragen die Macher von STRG_F.
Bilder als Kriegswaffe
Nannen, der 1996 mit 82 Jahren gestorben ist, stellen sie als "einen der größten deutschen Journalisten" vor. Den Namen des langjährigen stern-Chefs trägt eine renommierte Journalistenschule genau wie bislang ein wichtiger Preis, der diese Woche wieder vergeben wird. Nannen stritt für Willy Brandts Ostpolitik, druckte den legendären "Wir haben abgetrieben"-Titel, fetzte sich mit den Ewiggestrigen. Dass die Bundesrepublik so ist, wie sie ist, hat auch mit ihm zu tun.

Dabei war lange bekannt, dass er im Nationalsozialismus dem Führer in Artikeln für eine Kunstzeitschrift gehuldigt hat. Dass er als Propagandasoldat schmissige Berichte über das Heldentum der deutschen Flieger in der Sowjetunion ins Radiomikrofon gesprochen hat – und auch, dass er zuletzt, 1944 und 1945, in Italien Mitarbeiter des Waffen-SS-Projekts "Südstern" war, das die Kampfmoral der alliierten Truppen zersetzen sollte. Was das konkret bedeutete, blieb aber eher verschwommen. Bis jetzt.
Vorsichtig zieht die Bibliothekarin Rothkirch einige der Flugblätter aus den Hüllen. Zu sehen ist auf ihnen, wie Figuren, die den Nazi-Vorstellungen von Juden entsprechen, nach blonden Frauen grapschen. Die Botschaft an die jungen Amerikaner ist: Du kämpfst und leidest, verreckst vielleicht. Und was macht deine Frau? Eine Art Fortsetzungsroman wird erzählt. Davon, wie ein Mädchen in Versuchung gerät und am Ende in den Armen eines jüdischen Kriegsprofiteurs landet. Denn die Juden machen Geld mit dem Krieg. Ein anderes Flugblatt zeigt eine Karikatur, auf der US-Soldaten durch den Fleischwolf gedreht werden, und unten kommen Geldbeutel heraus, die von Juden-Darstellern in Empfang genommen werden. Seitlich kullern die Totenköpfe der jungen Männer auf ein Förderband, als "Abfall" gekennzeichnet.
Es sind Bilder, die als Kriegswaffe konzipiert wurden; abgeschossen an der Front in Italien mit Granatwerfern, die sie drei Kilometer weit zu den gegnerischen Soldaten trugen. Das Ziel, in das sie eindringen sollten, waren deren Köpfe. Die Munition wurde gefertigt aus Nazi-Dreck, den auch Luftwaffen-Leutnant Nannen anrichtete und passend machte.
"Neu ist die bildliche Kraft"
"Das ist natürlich schockierend, das ist menschenverachtend, das ist ganz krasser Antisemitismus", sagte Christina von Hodenberg, Chefin des Deutschen Historischen Instituts London, als Deutschlandfunk Kultur sie vor einigen Wochen befragte. Wobei sie zugleich erläuterte: "Neu ist die bildliche Kraft der Flugblätter."

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Diese Bilder hat STRG_F mehr präsentiert als enthüllt. Denn zugänglich waren sie auch zuvor – in Bildbänden, Katalogen, schon 2008 wurde in der "Süddeutschen Zeitung" der Standort in Berlin genannt. Aber darauf kommt es nicht an. Sie haben eine Kraft, die kein Text entwickelt und keine Schlagzeile. Niemand hätte das besser verstanden als Nannen selbst. Hunderttausende riefen im Netz das Video ab, in dem das Archivgut ausgebreitet wird.

Nannen, der ehemalige Student der Kunstgeschichte, war Anfang 30, als er zu "Südstern" kam. Er kannte den Krieg im Osten, wo die Rote Armee in der Offensive und das Leben gefährlich war. Seine Geliebte Martha – später seine zweite Frau – war bei ihm, wohl auch um den Bombenangriffen in Deutschland zu entfliehen. Nannen wollte erkennbar nicht weg aus Italien. Er lehnte sich nicht auf. Er erledigte den Nazi-Job.
Musste das sein? In einem Interview von 1985 werden seine Haltung und sein Selbstbild besonders klar. Gegeben hat er es mit über 70 einem Studenten, der seine Abschlussarbeit über ihn schreiben wollte. Nannen war da gerade in Hamburg im Krankenhaus und freute sich, dass sein Gast Zigaretten dabeihatte. "Er hat die halbe Packung geraucht", sagt Jürgen Streicher, der Student von damals, bei einer Limonade in seiner Heimat im Taunus. Streicher berichtet, dass er das Gespräch vom Band abgetippt und Nannen geschickt habe. "Der hat es normal redigiert und zurückgeschickt." Ist die Fassung aus seiner Examensarbeit also von Nannen so autorisiert? "Ja, jedes Wort."
Nannen erklärte dem jungen Mann die Welt, so wie er sie sah. "Mein Gott noch mal, entweder Sie wurden getötet, oder Sie töteten. In dem Augenblick, wo Sie Soldat waren, steckten Sie in der Maschinerie. Was sollten Sie denn tun?" Was er selbst getan hat, beschrieb er so: "Der eine schießt mit dem Gewehr, der andere mit dem Maul." Maulschütze Nannen lud aber auch als alter Herr auf dem Krankenbett sofort durch, wenn ihm Antisemitismus unterstellt wurde. "Sie werden in keinem meiner Artikel etwa antisemitische Bemerkungen finden", belehrte er Streicher – trotz der "Scheiße" (Nannen) in einigen seiner Artikel aus den 1930er-Jahren. Wer die Nannen-Sicht zum zweiten und dritten Mal liest, der merkt, dass er Antisemitismus weit von sich weist – aber nicht klar verneint, dass es bei "Südstern" so etwas gegeben hat.
"Wallstreet und die Juden!"
Es hat so etwas gegeben. Es war Teil der Arbeit Nannens. In der Biografie von Hermann Schreiber, einst Chefredakteur von "Geo", wird aus einer schriftlichen Meldung von Nannen über ein "Südstern"-Flugblatt zitiert: Das Flugblatt "Buy an Apple" sei entworfen worden, 110.000 Mal gedruckt und "zum Verschuss geliefert". Schreiber ergänzt auch noch Nannens Erklärung, das Blatt knüpfe an die Not amerikanischer Veteranen nach dem Ersten Weltkrieg an. Nur die Rückseite erwähnt Schreiber nicht. Auf der heißt es: "Es gibt nur eine Klasse von Menschen, die von jedem Krieg profitieren: Wallstreet und die Juden!"
Das ist die Art von Antisemitismus, die in Nazi-Deutschland allgegenwärtig war. Nannen und seine "Südstern"-Kameraden verbreiteten einen frisch konfektionierten Aufguss dieser Standardhetze. Wenn es einen Unterschied gab, dann vielleicht den, dass die Texter und Zeichner bei "Südstern" ihr Handwerk besser beherrschten als andere. Technisch und gestalterisch perfekte Ware lieferte etwa der Grafiker Heinz Fehling. Er spielt in den NDR-Recherchen eine besondere Rolle, wird als "dritter Mann" neben Nannen und Hans Weidemann vorgestellt, dem "Südstern"-Chef von der Waffen-SS.
Das irritiert zunächst, aber wer Fehling nachspürt, merkt, dass seine Geschichte durchaus dazu beitragen kann, zu verstehen, was in der Truppe vorging. Von ihm stammt ein Flugblatt, auf dem ein fettes Auto zu sehen ist, mit einem ebenso dicken Zigarrenraucher darin und einer Blondine auf dem Rücksitz; an der Seitentür prangt ein Davidstern. Im Hintergrund sammelt ein Jeep verwundete US-Soldaten vom Schlachtfeld. Der Text dazu: "Rich man’s war – poor man’s fight."

Auch dieses Bild war bekannt. Nannen-Biograf Schreiber hat es 1999 ebenfalls beschrieben und eher zaghaft auf die Recherchen des Historikers Ortwin Buchbender verwiesen, der einen Feldwebel als Quelle dafür anführe, dass Nannen die Idee zu solchen Erzeugnissen gehabt habe.
Buchbender ist im vergangenen Jahr gestorben und kann keine Auskunft mehr geben. Wahrscheinlich hätte er es ohnehin nicht getan. Zumindest berichtet der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom in seinem Buch "Undercover – der BND und die deutschen Journalisten", dass Buchbender es versäumt habe, sich die Aussage des Unteroffiziers schriftlich geben zu lassen. Dann sei er vor Nannens Drohungen mit einstweiligen Verfügungen gegen die Veröffentlichung zurückgewichen – und habe nicht geschrieben, was ihm über den mächtigen stern-Chef berichtet worden sei. Das habe Buchbender ihm 1979 erzählt, sei aber viele Jahre später zu weiteren Auskünften nicht bereit gewesen.
Eine exakte Zuordnung ist schwierig
Fast scheint es eine Regel: Je näher man zur Verantwortung für einzelne Texte der antijüdischen Hetze vordringt, desto mehr weicht die gesicherte Erkenntnis der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten. Desto höher wird auch die Dichte von unklaren oder erkennbar interessegeleiteten Hinweisen und Vermutungen. Was hatte Nannen konkret mit Flugblättern wie diesem zu tun? Hat er es beauftragt, verantwortet, gekannt, den Text dazu geschrieben? Die Zeichnung mit dem Straßenkreuzer trägt Fehlings Initial "f" – und ist eindeutig als seine zu erkennen. So zeichnete er Autos. Ungleich schwerer ist es, die Urheberschaft eines englischen Propagandatextes auszumachen. Doch braucht es diesen Nachweis im Einzelfall überhaupt, um Nannens Rolle zu bewerten?
"STRG_F" bezeichnet Nannen als Boss von "Südstern". Daraus leiten die Autoren ab, dass alles, was dort entstand, ihm angelastet werden könne. Tatsächlich berichtete ein ehemaliger Unteroffizier, "Sir Henri" habe zum Vergnügen des eigentlichen Chefs Weidemann das Kommando übernommen. Legendär ist die Selbstverständlichkeit, mit der Nannen sich etwa bei Konrad Adenauers Moskau-Besuch 1955 neben den Kanzler und den sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin schob. Er hatte, unabhängig von seiner tatsächlichen Funktion, das "befugte Gesicht" – und das wohl auch schon bei "Südstern". Formal jedenfalls war er nicht der Chef.

Trotzdem gibt es keinen vernünftigen Zweifel, dass Nannen genau wusste, was geschah – und an vielem selbst beteiligt war. Das gilt nicht für jedes einzelne Flugblatt, auch nicht für jeden Tag der "Südstern"-Aktivitäten, aber doch für die Ausrichtung. Bei "Südstern" arbeitete ein überschaubares Team, Nannen war einer der Offiziere. Sein Interesse galt nicht dem Druck oder der Verteilung der Blätter, sondern er war für die inhaltliche Arbeit da. Dazu war er verbunden mit dem ebenfalls kunstinteressierten SS-Karrieristen Weidemann, der diese Art von Feindpropaganda wie kaum ein anderer vorangetrieben hat – sie ging nicht zuletzt zurück auf eine Denkschrift von ihm "zur Einleitung einer Propagandaschlacht an allen Fronten". Wenn die Hetzschriften also richtig dieser Einheit zugeordnet sind, dann war Nannen dabei.
Der Bestand mit den Flugblättern aus dem Zweiten Weltkrieg stammt vom verstorbenen Erlanger Sammler Klaus Kirchner. Sein Sohn berichtet, wie akribisch er gearbeitet habe, dass er gar eine Arbeitswohnung unterhalten habe, in der er unentwegt Flugblätter – keineswegs nur aus Italien – geordnet und erfasst habe. Zahlreiche Bände mit dem Material hat er herausgegeben. 1991 hat ihm die Universität München einen Ehrendoktor verliehen für die Sicherung von "Quellenmaterial von hoher historisch-politischer Aussagekraft". "In der Katalogisierung der Flugblätter haben wir uns an Herrn Kirchner gehalten", sagt Rothkirchs Kollegin Friederike Willasch.
Viele der Flugblätter seien von den Machern mit Codezeichen versehen worden, die eine Zuordnung erlaubten und die Kirchner in einem der Bände, die er herausgegeben hat, auch dokumentiert hat. Rothkirch ergänzt: "Kirchners Spezialwissen war schon einzigartig." Die Staatsbibliothek habe zu dem Bestand aber keine eigenen Forschungen angestellt. Trotzdem bleibt der sichere Eindruck: Selbst wenn mal etwas falsch abgelegt sein kann, gibt es keinen Hinweis, dass Kirchner sich bei der Bewertung von "Südstern" systematisch geirrt hat.
"Höfliche Altnazis"
Im STRG_F-Beitrag sagt der Kunsthistoriker Bernd Küster, Nannen habe "die Federführung" für die Inhalte der Flugblätter gehabt und diese vorgegeben oder verantwortet. Eine Quelle dafür nennt er nicht. Aber am Telefon erzählt Küster die Geschichte: Er habe für sein Buch über Fehling vor über 30 Jahren auch Paul Carrell zu Hause besucht. Das ist eine wahrhaft schillernde Figur. Eigentlich hieß der Mann Schmidt, ein Ex-Obersturmbannführer der SS, Pressechef von Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop und nach dem Krieg sehr erfolgreich mit Lobliedern auf den ach so ehrenvollen Kampf der Wehrmacht. Küster nennt Carrell einen "höflichen Altnazi von großer Offenheit". Und der habe ihm gesagt, dass Nannen bei "Südstern" für die Inhalte zuständig gewesen sei und derjenige, "der die harte Diktion reingebracht hat".
Aber was taugt eine solche Aussage? Nannen hat vielfach üble Nachrede von rechts außen erlebt. Die ganze Recherchekraft des stern musste er aufbieten, um 1970 den falschen Vorwurf zu widerlegen, er sei an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen. Die Aussage, dass Nannen ein besonders scharfer Anhänger der nationalsozialistischen Sache gewesen sei, klingt nach einer Bösartigkeit des höflichen Altnazis.
Küster berichtet aber auch, er habe wegen Fehling bei Nannen angerufen. Doch der habe bestritten, den einstigen "Südstern"-Mann überhaupt zu kennen. Kann das sein? In Fehlings Heimatort Scheeßel hängen die Arbeiten des großen Sohnes – natürlich nicht die Propagandasachen – im Foyer des Rathauses. Im Heimatmuseum ist Fehling ausdrücklich zentraler Bestandteil der Arbeit. Die Kuratorin Birgit Ricke, inzwischen 65, erzählt Anekdoten über Fehling, der in den 1950er-Jahren als erfolgreicher Werbegrafiker mit dem roten Cabrio durch den Ort gebrettert sei. "Ein Lebemann, der war schon eine exotische Figur", sagt sie. Niemand, den man gleich wieder vergisst. In Hamburg betrieb er zeitweise mit Nannens ehemaligem Chef und späterem Mitarbeiter Weidemann ein Atelier. Auf einer gemeinsamen Neujahrskarte grüßen die beiden sehr vertraut. Fehling und seine Arbeiten waren 1949 im stern zu sehen, was, wie er seiner Mutter schrieb, ihm gleich einen weiteren Auftrag einbrachte. Der "Verlag Henri Nannen" publizierte gar in der Reihe "Die bunten Hefte" ganze Ausgaben, die Fehling illustrierte.
Bildband aus dem Koffer
Eines der wenigen erhaltenen Exemplare der bunten Heftchen verwahrt die Großnichte des Grafikers in einem Koffer. Auch den führt STRG_F vor. Die Besitzerin Dörthe Herrler, Grundschullehrerin in Hessen, fand die Präsentation der NDR-Leute etwas reißerisch. Denn bereits vor zehn Jahren hat sie mit dem Kofferinhalt einen Bildband gestaltet, in dem so ziemlich der ganze Fehling zu sehen ist. Aber trotzdem: "Natürlich haben Nannen und Fehling sich gut gekannt", berichtet Herrler in der kleinen "Galerie am Alten Markt", die sie in Ortenberg neben ihrem Hauptjob betreibt.
Herrler erzählt, dass Fehling mit ihrer Mutter offen über die Propagandabilder an der Italienfront gesprochen habe. "Er war bestimmt kein Nazi, aber er hat sein Handwerk angeboten." Bei Nannen werde es ebenso gewesen sein. Von einem berühmten Bierplakat aus den Nachkriegsjahren, das Fehling gestaltet hat, lächelt in ihrer Galerie ein Mann, der erstaunlich an den SS-Veteranen Weidemann erinnert. In der Beziehung der beiden Männer markiert das Jahr 1945 offenbar keinen radikalen Bruch.
Als der Krieg aus war, wollte Nannen Karriere machen, Erfolg haben, sich ein Leben aufbauen. In den Verfahren für seine Entnazifizierung und für die Erteilung einer Zeitschriftenlizenz stellte er heraus, wie er unter dem Hitler-Regime gelitten habe. Seine Promotion sei unmöglich geworden, weil er als politisch unzuverlässig eingeordnet worden sei. Der Vater ein Sozialdemokrat. Zeitweise sei er mit Schreibverbot belegt worden, gar für ein paar Wochen aus Angst vor der Gestapo in die Schweiz geflohen. Weggefährten bescheinigten ihm eine tadellose Haltung. Er habe einen Unterschlupf für seine Tochter angeboten, falls diese in Gefahr gerate, erklärte der Jude Fritz Rose. Angehörige seiner Einheit betonten, jeder habe gewusst, dass Nannen gegen die Nazis gewesen sei.
Der stern im Laufe der Zeit
Auch wenn in diesen Erklärungen oft die Wirklichkeit zurechtgebogen wurde, spricht nichts dafür, dass Nannen ein überzeugter Nationalsozialist war. Und viel dafür, dass er das Regime verabscheut hat. Nur mitgemacht hat er eben bei "Südstern" schon – was aus den Unterlagen aus der Nachkriegszeit aber nirgendwo hervorgeht. In der langen Liste seiner militärischen Verwendungen fehlt eine Eintragung zu der SS-gelenkten Kampfpropaganda. Das mag formal korrekt sein, da er ja weiter in einer Stabskompanie der 10. Armee registriert war. So steht da als "Art der Tätigkeit und Verantwortungsbereich" für die Zeit von Januar 1944 bis April 1945 nur "Zugführerdienst", was seine Aufgaben nicht besonders deutlich macht. Nannen tat offenkundig, was er tun musste, um den Start in die neue Zeit nicht zu gefährden.
In der war er dann unfassbar erfolgreich. Er machte den stern zur zeitweise größten Zeitschrift der Welt. Woche für Woche mischte er das Blatt aus Geschichten zusammen, die Millionen verschlangen. Wohl auch, weil er ein feines Gespür dafür hatte, was die Menschen lesen wollen. Lange bevor der stern zum linksliberalen Vorreiter von Aussöhnung und Liberalisierung wurde, druckte er auch ganz andere Texte. Artikel, in denen sich die westdeutsche Gesellschaft der Nachkriegsjahre als Opfergemeinschaft wiederfinden konnte: von einer Clique von Nazi-Verbrechern ins Desaster geführt, von den Siegermächten geknechtet. Dem Krieg kommt in dieser Sicht die Kraft einer Naturgewalt zu, an der man eben nichts ändern könne.
Mit viel Mitgefühl schrieb der stern über SS-Männer, die wegen eines Massakers ihrer Einheit in Frankreich vor Gericht standen, an denen einige von ihnen offenbar nicht beteiligt waren. "Ist nicht am Ende der Krieg allein schuld, der Krieg, der auf beiden Seiten so viel Unrecht und Verbrechen häufte?", fragt der stern-Autor. Ein Stück über die Kriegsverbrecher im Spandauer Gefängnis endet mit dem Zitat eines Gefängnisdolmetschers: "Sie sind alle keine Verbrecher. Sie sind Gentlemen."
In ganz anderem Licht erscheinen Minderheiten und Außenseiter. So wird 1951 das Leben einer jungen Deutschen – "27 Lenze, blauäugige, stramme Blondine" – bei "Zigeunern" so beschrieben: "Für Gisela sind wohl der Dreck, der Gestank, die Läuse und die rüden Reden in den Behausungen ihrer Zigeunersippe im natürlichen Menschentum inbegriffen." Üble Stereotype gibt es auch über Polen, denen ein Hang zum Klauen und Saufen nachgesagt wird.
Dunkle Adenauer-Jahre
Anders als im Schatten der Front in Italien ging es in den Adenauer-Jahren nicht mehr um Leben und Tod. Alle strebten danach, endlich zu Wohlstand zu kommen – und oft suchten sie dabei die Nähe von Weggefährten aus dem Krieg. Die Veteranen der Propagandakompanien, zu denen Nannen gehörte, nutzten zur Kontaktpflege ein eigenes Blatt, die "Wildente". Dort wurde in markigem Ton an die alte Zeit erinnert, auch an "Südstern". Über dessen Granatwerfer hieß es: "Eine schnelle Schußfolge war gewährleistet. Meist waren die Werfer wieder verschwunden, bevor der Gegner die Feuerstellung erkannt hatte." Den einstigen SS-Mann Hans Weidemann konnten die Leser bei der Wahl der Miss Germany bewundern, an der er mitwirkte. Die von ihm später geleitete stern-Aktion "Jugend forscht" inserierte in dem Heftchen. Wie auch der stern selbst. Nannen war 1957 gar auf dem Titel zu sehen.
Für die westdeutsche Gesellschaft war es ein weiter Weg bis zu der Offenheit und Liberalität, die die Bundesrepublik später kennzeichneten. Nannen und der stern stritten für sie wie wenige andere. Die Aussöhnung mit dem Osten etwa hat Nannen schon unterstützt, als das noch hoch umstritten war. Seine Verdienste bleiben groß. Nur kamen Wandel und Fortschritt nicht über Nacht. Weder bei Nannen noch bei den Deutschen insgesamt, noch in der westdeutschen Publizistik, die in den ersten Adenauer-Jahren zu großen Teilen sehr weit rechts stand.
20 Jahre ist es mittlerweile her, dass der Journalist Lutz Hachmeister die nach dem Krieg entstandenen Medien ermahnt hat, die eigene Geschichte nicht zu "verpanzern" und sich ihr zu stellen. Passiert ist seitdem wenig, jedenfalls nicht genug – wie eine Begegnung mit Michael Schornstheimer zeigt. In der Berliner Frühjahrssonne erinnert sich der kluge Soziologe, ergraut und frisch in Rente, an seine Dissertation. Als junger Mann hat er darin den Umgang mit der NS-Vergangenheit im stern und dessen damaliger Konkurrenz "Quick" in den 1950er-Jahren untersucht. Tausend Fragen wirft sie auf. Nur gestellt hat sie ihm niemand: "Sie sind der erste stern-Mitarbeiter, der mich je angerufen hat."