Jeder dritte junge Mann findet es "akzeptabel", wenn ihm bei Streitigkeiten mit der Partnerin "gelegentlich die Hand ausrutscht". 47 Prozent verstehen "aufreizendes Verhalten" als Aufforderung. Für 49 Prozent der 18- bis 35-Jährigen ist es wichtig, in der Beziehung das letzte Wort zu haben.
Das sind Ergebnisse einer repräsentativen Befragung im Auftrag des Kinderhilfswerks Plan International. Die Nichtregierungsorganisation wollte mit der Erhebung "Spannungsfeld Männlichkeit" herausfinden, wie junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren über Männlichkeit denken und sie im Alltag leben.
Die Forschungsarbeit hat in der Methodik ihre Tücken. Befragt wurden je 1000 Männer und Frauen in der Altersgruppe, 1896 Fragebögen wurden in die Auswertung einbezogen. Dabei bekamen die Befragten Aussagen vorgelegt, bei denen sie ankreuzen sollten, ob sie zustimmen würden, wenn sie sich in der ausgewiesenen Situation befinden würden. Dafür müssen die Befragten nicht tatsächlich in der Situation gewesen sein.
Plan International gibt zudem nur wenige Informationen zur Zusammensetzung der befragten Gruppe und zur Art der Gewichtung, um in etwa der Gesamtbevölkerung zu entsprechen. Auch wurde keine ausführliche Aufstellung der Ergebnisse veröffentlicht.
Bei aller methodischer Kritik: Die Studie ist nicht die erste, die zu vergleichbaren Ergebnissen kommt. Deshalb verwundern die Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin Julia Roth die Ergebnisse nicht, sagt sie dem stern: "Sie überraschen mich ein bisschen in der Höhe der Prozentzahlen. Aber dass es diese Muster gibt, ist leider nicht neu." Julia Roth ist Professorin an der Universität Bielefeld und zuständig für American Studies mit dem Schwerpunkt Gender Studies. Sie forscht und publiziert seit 15 Jahren zum Thema Ungleichheit und Gender und sagt: "Die Tendenz sollte man ernst nehmen."
Die Muster
Zum Vergleich: 2004 wurde die erste große bundesdeutsche Repräsentativuntersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland von der Uni Bielefeld durchgeführt, im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Bei dieser Studie gaben 40 Prozent der Frauen an, seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt zu haben. Das ist etwa deckungsgleich mit der potentiellen Gewaltbereitschaft der von Plan International befragten Männer.
2016 gab jede zehnte befragte Person in einer Studie der Europäischen Union an, wenn eine Frau sich "zu sexy" anziehe, sei sie selbst schuld, wenn sie sexuelle Gewalt erfahre.

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Das Bundeskriminalamt erfasst die Fälle partnerschaftlicher Gewalt, die zur Anzeige kommen. Seit 2017 sind es jedes Jahr zwischen 139.000 und 148.000 Fälle.
Dabei spielen auch soziale Medien eine Rolle. Influencer wie Andrew Tate normalisieren männliche Dominanz für ein häufig junges Publikum, das auf der Suche nach einem Männlichkeits-Vorbild ist. Der ehemalige Kickboxer und Influencer wurde von mehreren Befragten bei Plan International als Vorbild genannt – Tate sitzt mittlerweile in Rumänien im Hausarrest, wegen des Verdachts auf Menschenhandels und weiteren Anschuldigungen. Die Genderforscherin Julia Roth kritisiert in diesem Zusammenhang: "Tradierte Geschlechterrollen weichen zwar auf. Dadurch kann aber eine Unsicherheit entstehen, wodurch ein traditionelles Männerbild umso vehementer verteidigt wird. Es gibt Bewegungen im Netz, die sagen, Männer dürften nicht mehr so sein, wie sie sind. Da kriegen besonders junge Männer vermittelt: Dominante Männlichkeit ist das eigentliche Opfer."
Der Umgang
Dass dieses Verhalten bei vielen Frauen nicht mehr gut ankommt, zeigt die Befragung von Plan International. 77 Prozent der befragten Frauen gaben an, Männer sollten inzwischen wissen, was in Sachen Gleichberechtigung von ihnen erwartet wird. Im Gegensatz zu den befragten Männern erwarten die Frauen mehr Augenhöhe, jede Vierte fordert von Männern, auf Privilegien zu verzichten. Doch die sind sich diesen zum Teil gar nicht bewusst, so die Genderforscherin in Gespräch mit dem stern.
Frauen setzen sich schon deutlich länger mit Rollenbildern auseinander – sie erkämpften ihr Wahlrecht, das eigene Bankkonto, die Anerkennung von Vergewaltigung in der Ehe. Das sei in der Aufarbeitung ein Vorteil für Frauen, gibt Julia Roth zu bedenken: "Ich habe manchmal männliche Studierende im Kurs, die sich an der Uni zum ersten Mal mit kulturellen Geschlechterbildern auseinandersetzen und ihr Selbstbild hinterfragen. Frauen sind selten so naiv, weil sie die Erfahrung der Ungleichheit schon viel länger kennen."
Privilegien anzuerkennen und abzugeben kann schmerzhaft sein. Viele Männer stürzen sich deshalb in Abwehrmechanismen, das zeigen Studien und das bestätigt auch die Kulturwissenschaftlerin Julia Roth. Einer davon kann der Reflex sein: 'Das ist ja schrecklich, aber doch nicht bei uns.' Kaum ein Mann will einen anderen Mann kennen, der Täter ist. Doch dass vier von zehn Frauen Gewalt erfahren, legt Strukturen offen.
Diese Gewaltbereitschaft auf andere zu projizieren, sei ein Teil des Problems, beschreibt Roth: "Viele lagern Gewalt aus. Meine Kollegin Gabriele Dietze hat den Begriff des Ethno-Sexismus geprägt. Das heißt, dass sexualisierte Gewalt oder toxische Männlichkeit meist den 'anderen' Männern zugeschrieben wird. Zum Beispiel dem islamischen Patriarch oder jungen Migranten aus dem Norden Afrikas."
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Die Verdrängung
Bei aller Verdrängung zeigt die Befragung auch: Männer leiden selbst unter den Werten, die sie vertreten. Etwa 57 Prozent gaben an, das Geld für die Familie verdienen zu müssen. 53 Prozent verbergen ihre Gefühle und 63 Prozent der Befragten fühlen sich manchmal traurig, einsam oder isoliert. Doch das Weltbild scheint stärker als der eigene Leidensdruck: 88 Prozent der Befragten seien mit sich und ihrem Männerbild im Reinen – während 95 Prozent sagten, sie empfinden einen gewissen Druck, sich zu verändern.
"Viele junge Männer scheitern an ihrem eigenen Ideal. Es ist eben immer noch eine Hürde, Gefühle zu zeigen oder über Einsamkeit zu sprechen", sagt die Wissenschaftlerin Julia Roth. Genderforschung müsse deshalb für alle Geschlechter da sein, so Roth: "Ich glaube, dass mentale Gesundheit von Männern in der Forschung noch zu wenig thematisiert wird."
Gewalt gegen Frauen ist ein gesellschaftliches Problem
Viele Frauen erleben Gewalt. Das belegen zahlreiche Studien in den vergangenen 20 Jahren. Genderforscherin Julia Roth findet, dass soziale Arbeit wichtig ist, genauso wie mehr Bildung, Forschung und mediale Aufklärung in diesem Feld: "Für viele Frauen ist Gewalt eine alltägliche Erfahrung in ihrem Leben. Das zeigt die Systematik und dass wir die Diskussion nicht mehr auf gesellschaftliche Randgruppen auslagern dürfen."
Wer von Gewalt betroffen ist und sich Hilfe suchen möchte, findet diese bei Organisationen wie dem Weißen Ring, Terre des Femmes oder Frauen gegen Gewalt e.V. Wer nicht persönlich erscheinen möchte oder kann, kann sich beispielsweise über das Opfer-Telefon des Weißen Rings anonym und kostenfrei Hilfe suchen. Die Nummer ist zwischen 7 und 22 Uhr täglich erreichbar unter 116 006.
Weitere Quellen: Plan International-Befragung, Bundesfamilienministerium, Bundesfamilienministerium Studie, Bundeskriminalamt, Eurobarometer, Terre des Femmes, UN Women