Gab es Zeugen? Mitwisser? Oder gar Helfer? Der Mord an Michèle Kiesewetter gehört zu den rätselhaftesten Anschlägen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Am 25. April 2007 parkte die Polizistin ihren Streifenwagen gegen 14 Uhr auf der Theresienwiese in Heilbronn an einem Trafohäuschen. Neben ihr saß Kollege Martin A., 24. Wenig später war Kiesewetter tot. Die 22-Jährige war mit einem Kopfschuss hingerichtet worden. Ihr Kollege Martin A. überlebte schwer verletzt, getroffen von einer Kugel in den Kopf, konnte sich so gut wie nicht erinnern. Gerade hat sich der Anschlag auf die Polizisten zum zehnten Mal gejährt.
Polizeiakten über die Funkzellen-Auswertung am Tatort legen jetzt den Verdacht nahe, dass womöglich Kontaktleute der "Sauerland"-Terroristen in der Nähe gewesen sein könnten, als Michèle Kiesewetter erschossen wurde. Die radikalen Islamisten, darunter zwei Männer aus dem Raum Ulm, planten im April 2007 Sprengstoffattentate auf US-Einrichtungen in Deutschland. Sie wurden ein knappes halbes Jahr später, im September 2007, im Sauerland verhaftet und 2010 zu hohen Haftstrafen verurteilt. Eine weitere Handynummer, die in Tatortnähe eingebucht war, führt in die Ulmer Dschihadistenszene. Doch keine dieser Spuren wurde weiter verfolgt. Das ergibt sich aus geheimen Polizeiakten, die dem stern und dem ARD-Politmagazin Report Mainz vorliegen.
Zweifel an Version der Bundesanwaltschaft
Ist der Fall vielleicht doch nicht so einfach, wie die Bundesanwaltschaft ihn gerne darstellt? Sie hält die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt für die alleinigen Mörder, die keinerlei Helfer und Zeugen hatten. Ihr Motiv: Sie hätten sich "gegen das bestehende staatliche System zumindest symbolhaft" auflehnen wollen. Außerdem wollten sie den Polizisten ihre Dienstwaffen abnehmen. So hat es auch Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München ausgesagt, wo sie sich derzeit als mutmaßliches Mitglied der Terrorzelle verantworten muss.
Tatsächlich wurden die Dienstwaffen der Polizisten später im Wohnmobil der Terroristen sichergestellt. Kiesewetters Blut konnte an einer grauen Jogginghose nachgewiesen werden, die in der Zwickauer Wohnung der Terroristen lag. Mundlos und Böhnhardt haben sich vor ihrem Tod im November 2011 in Eisenach mit einem Bekennervideo zum Mord an neun Migranten bekannt. Auf dem Video sind auch eine Polizeipistole und Bilder von der Theresienwiese zu sehen. Dass Mundlos und Böhnhardt am Tatort waren, gilt als bewiesen. Aber waren sie alleine? Gab es Zeugen? Mitwisser? Oder gar Helfer? Und warum waren sie ausgerechnet in Heilbronn? Fragen, die ungeklärt sind - weil die Polizei womöglich nicht gründlich genug ermittelt hat?
Nach dem Anschlag auf die Polizisten übernimmt die Soko "Parkplatz" im April 2007 die Ermittlungen. Die Polizisten lassen in Heilbronn Tausende von Funkzellendaten vom Tattag und von den Tagen davor sichern. Über das Bundeskriminalamt schicken sie die Daten nach Den Haag zu Europol. Sie wollen wissen, ob Handynummern von polizeibekannten Personen in Tatortnähe eingeloggt waren.
Europol ermittelt 50 verdächtige Handynummern
Tatsächlich wird Europol fündig. Im Dezember 2008, also gut anderthalb Jahre nach dem Polizistenmord, schickt die Strafverfolgungsbehörde der Europäischen Union ihren Kollegen vom BKA eine Liste mit rund 50 "Kreuztreffern". Das sind Rufnummern, die in Heilbronn am Tattag um die Tatzeit eingeloggt waren und die identisch sind mit Telefonnummern, die vorher schon mal in anderen Ermittlungsverfahren aufgetaucht sind - das können Nummern von Beschuldigten, Zeugen, Verdächtigen, aber auch von Unbeteiligten sein, die ins Visier der Ermittlern geraten sind.
Die Telefonnummern, die Europol nach Wiesbaden schickt, verraten, dass mutmaßliche illegale Einwanderer, Zigarettenschmuggler, Drogendealer und Hells Angels am Tattag zur Tatzeit in Heilbronn unterwegs waren. Neun Telefonnummern sind vorher bei Ermittlungen gegen Terrorverdächtige aus der islamistischen Szene aufgetaucht. Eine dieser Handynummern ist besonders interessant: Es ist eine 016er-Nummer, die den Ermittlern der "EG Zeit" untergekommen ist. Sie hat 2007 beim Bundeskriminalamt gegen die "Sauerland"-Terroristen ermittelt. Der Inhaber dieser Nummer könnte also aus dem Umfeld der Terroristen stammen. Und er war offenbar in der Nähe, als die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen wurde.
Spuren in die Terrorszene werden nicht verfolgt
Und das ist nicht der einzige interessante Treffer: Eine 017er-Nummer führt zu dem Aktenzeichen der BKA-Ermittlungsgruppe "EG Martan". Sie hat 2003 die Todesfälle von drei Dschihadisten aus Ulm und dem Stuttgarter Raum in Tschetschenien untersucht. Der Inhaber dieser 017er-Handynummer hat also womöglich Kontakt zur Islamistenszene in Ulm und Neu-Ulm, wo auch Mohammed Atta, einer der Todespiloten vom 11. September, und Said Bahaji, der Cheflogistiker der Anschläge, verkehrt haben. Und aus diesem Zentrum radikaler Islamisten stammen eben auch zwei der "Sauerland"-Terroristen.
Doch obwohl die Kreuztreffer den Verdacht nahelegen, dass Kontaktleute von Terroristen in der Nähe gewesen sein könnten, als auf die Polizisten geschossen wurde, werden diese Funkdaten nicht ausgewertet. Im Frühjahr 2009 verfügt die Leitung der Sonderkommission, dass die Telefonauswertung zurückgestellt wird. Die Auswertung habe "keine Priorität" gehabt, sagt ein Stuttgarter LKA-Beamter später, im Jahr 2015, vor dem baden-württembergischen Untersuchungsausschuss. Seine Aussage deckt sich mit den Polizeiakten: "Die Bearbeitung/Betrachtung der einzelnen Nummern und der Abgleich mit dem Gesprächsmuster in der Funkzelle wurde ... auf Weisung der damaligen Leitung der Sonderkommission zurückgestellt", heißt es darin.
Dass die Polizei die Inhaber der Handynummern nicht aufspürt, ist erstaunlich. Denn im März 2009 hat sich gerade ihre heißeste Spur zerschlagen: Die Spur des "Phantoms von Heilbronn", einer vermeintlichen Serienmörderin. Ihre DNA war nicht nur am Streifenwagen von Michèle Kiesewetter sichergestellt worden, sondern an mindestens 40 weiteren Tatorten, darunter auch an Tatorten von Tötungsdelikten. Die DNA stammte allerdings, wie der stern damals enthüllte, von einer Arbeiterin. Sie hatte die Wattestäbchen verpackt, die für die Spurensicherung an den Tatorten benutzt worden waren. Die vermeintliche Polizistenmörderin war also in Wirklichkeit eine unschuldige Packerin. Dass Rechtsradikale hinter dem Anschlag auf die Polizisten stecken könnten, wussten die Ermittler damals noch nicht. Es hätten auch Islamisten sein können. Oder eine Allianz aus beiden Gruppierungen. Zu diesem Zeitpunkt ist alles offen. Also hätte man eigentlich in alle Richtungen ermitteln müssen.
Gab es Zeugen, Mitwisser oder gar Helfer?
Und gerade die Funkdaten der 016er-Nummer, die im Ermittlungsverfahren gegen die "Sauerland"-Terroristen aufgetaucht war, sind bemerkenswert: Diese Handynummer war kurz bevor Kiesewetter erschossen wurde, von 11.20 Uhr bis 13.49 Uhr, also über zwei Stunden lang, in der Funkzelle an der Theresienwiese eingebucht. Um 13.28 Uhr wurde mit diesem Handy ein Gespräch geführt. Die Person, die es führte, bewegte sich zu diesem Zeitpunkt "in Richtung Hafenstraße". Die Straße verläuft nördlich der Theresienwiese, dort, wo wenig später die Schüsse fielen. Kurz vor 14 Uhr schlichen sich die Mörder von hinten an den Streifenwagen heran. Die Handynummer aus der Tatort-Funkzelle wurde um 13.49 Uhr ausgebucht. Das bedeutet, dass die Person die Funkzelle nur Minuten vor dem Polizistenmord verlassen hat.
Wer war diese Person? War sie unbeteiligt, zufällig vor Ort und hat nichts mitbekommen? Oder hatte sie etwas beobachtet? War sie gar beteiligt? Floh sie vom Tatort? Fragen, die die Polizei nicht aufklärt, weil sie gar nicht erst nach dieser Person sucht. Vor dem Hintergrund, dass ihre Nummer aber bei den Ermittlungen gegen die „Sauerland“-Terroristen aufgetaucht ist - also die Person Kontakte ins hochkriminelle Milieu haben könnte - scheint das erstaunlich.
Verdächtige Handydaten gelöscht
Erst vier Jahre nach dem Polizistenmord, im Frühjahr 2011, wird endlich ein Teil der Heilbronner "Kreuztreffer" ausgewertet. Zu spät, wie sich zeigt. Denn ausgerechnet die Telefonnummern, die den Verdacht begründen könnten, dass möglicherweise Kontaktleute von Terroristen in der Nähe des Tatorts waren, kann der Beamte nicht mehr zurückverfolgen. Die angefragte Rufnummer "ist hier nicht (mehr) verzeichnet. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen Datensatz, der ... bereits gelöscht wurde", heißt es in den Akten unter dem 11. April 2011. Bei Europol lägen auch keine weiteren Erkenntnisse zu der Rufnummer vor. Und auch beim BKA seien angeblich keine weiteren Daten mehr vorhanden. "Ein echter Tatverdacht lässt sich mit den bisherigen Erkenntnissen nicht konstruieren", schreibt der LKA-Beamte in seinem "Auswertebericht". Doch woher will der Polizist das wissen, wenn er die Person, die mit ihrem Handy in Tatortnähe war, gar nicht identifiziert hat?
Womöglich muss jetzt auch der Aussage der Rechtsanwältin Ricarda Lang vor dem NSU-Untersuchungsausschuss nachgegangen werden. Die Anwältin, die einen "Sauerland"-Terroristen verteidigt hat, sagte vor wenigen Wochen im Landtag in Stuttgart, dass auf der Theresienwiese am Tag des Mordes ein Waffendeal geplant gewesen sei. Das habe sie 2009 von einem Informanten erfahren. Aus diesem Grund sei ein Doppelagent, der für amerikanische und türkische Geheimdienste arbeiten würde, dort gewesen. Sie habe geglaubt, es würde sich dabei um Mevlüt K. handeln. Der Deutschtürke aus Ludwigshafen soll mit Waffen handeln. Er gilt außerdem als fünfter Mann der islamistischen "Sauerland"-Terrorgruppe, soll die Zünder für die geplanten Attentate besorgt haben. Schließt sich hier unter Umständen der Kreis zur Handynummer, die bei der "EG Zeit" aufgetaucht ist?
Opferanwalt fordert neue Ermittlungen im Fall Michèle Kiesewetter
Walter Martinek, der Anwalt des überlebenden Polizisten Martin A., fordert jedenfalls neue Ermittlungen. "Ich könnte mir vorstellen, dass etwas völlig anderes ablief, als das, was die Anklage zur Grundlage des Motivs erklärt hat", sagt der Jurist in einem Interview mit Report Mainz. Auch Petra Pau, die für die Linken im NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages sitzt, äußert Zweifel. "Ich, und meine Kollegen im Ausschuss auch, glauben nicht an die Theorie, dass Mundlos und Böhnhardt vorbei gekommen sind, um sich Waffen zu besorgen und dann ziellos die beiden Polizisten angegriffen haben. Also da muss schon etwas mehr an Planung dahinter gesteckt haben. Um die Frage nach möglichen Unterstützern für den Mord an Michèle Kiesewetter zu klären, wäre es wichtig, dass weitere potenzielle Zeugen des Tatgeschehens ermittelt und vernommen werden."
"Zunächst mal müssen auch Nummern, die polizeilich bekannt sind, nichts mit der Tat zu tun haben", gibt Clemens Binninger (CDU), Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag und Ex-Polizist, zu bedenken. "Aber für mich ist schon zwingend: Wenn man eine Nummer sehr nah an den Tatort bringen kann, sehr nahe an die Tatzeit, und sie polizeilich bekannt ist, dann müssen diese Nummern natürlich auch im Einzelfall konkret überprüft werden."
Thomas Feltes, früher Rektor an der Polizeihochschule Baden-Württemberg, wird deutlicher. Nachdem er sich die Akten angesehen hat, attestiert er den Ermittlern "null Aufklärungswillen". Der Kriminologie-Professor hält es nicht für ausgeschlossen, "dass vielleicht mehr als zwei Täter vor Ort gewesen sein könnten." Und das, so sagt er, könnte dramatische Folgen für den Prozess in München gegen Beate Zschäpe haben, der kurz vor dem Ende steht. "Wenn man herausfindet, dass es tatsächlich mehr Täter als Mundlos und Böhnhardt gab, dann fällt das gesamte NSU-Verfahren wie ein Kartenhaus in sich zusammen."
Bundesanwaltschaft schweigt
Die Bundesanwaltschaft hat die gemeinsame Presseanfrage von Report Mainz und des stern über die Frage, warum den Telefonnummern nicht nachgegangen wurde, unbeantwortet gelassen.
