Mom-Shaming Mütter werden ständig verurteilt – wieso wir dringend damit aufhören müssen

Frau sitzt mit Baby auf der Parkbank
Es sind egoistische Motive, die Mütter dazu antrieben, andere Mütter niederzumachen. "Dabei geht jegliche Empathie verloren", bedauert Familientherapeutin Katharina Pommer.
© Zoonar / Imago Images
Sobald die Frau schwanger ist, hagelt es Kritik, Kommentare und Vorurteile. Teils von Bekannten, oft auch von Fremden. Das sogenannte Mom-Shaming, das Mütter nahezu täglich erleben, ist nicht nur eine seelische Belastung, sondern zeigt ein größeres gesellschaftliches Problem auf.

Zwei Mütter sitzen auf den Spielplatz. Ihre Kinder toben ausgelassen durch den Sandkasten, die Frauen kommen ins Gespräch. "Wie, du gehst schon wieder arbeiten?", fragt die ein in abschätzigem Ton, als die andere von ihrem Beruf erzählt. "Ich würde mein Kind in dem Alter keiner fremden Person überlassen." Die andere kontert: "Genau dafür haben wir Frauen doch jahrelang gekämpft." Mit einem Seitenblick auf die Gummibärchen, die ihre Gesprächspartnerin für ihr Kind aus der Tasche geholt hat, fügt sie hinzu: "Und sowas Ungesundes würde ich meinem Sohn nie zu essen geben." 

Dies mag zwar ein fiktiver Dialog sein, aber es ist ein Dialog, wie er in der Realität jeden Tag dutzende Male stattfindet. Nicht nur auf dem Spielplatz, sondern auch in der Kita, auf der Entbindungsstation, im Gespräch mit der Schwiegermutter, in sozialen Netzwerken.

Jede Mutter, die von den eigenen Vorstellungen abweicht, macht es falsch

Mom-Shaming heißt das Phänomen, "bei dem Mütter kritisiert, beschämt oder verurteilt werden, weil sie Entscheidungen treffen oder Verhaltensweisen an den Tag legen, die von anderen als unangemessen oder falsch angesehen werden", erklärt Familientherapeutin Katharina Pommer. Mom-Shaming kann von der Familie, von Freunden, Bekannten, aber auch von völlig Fremden ausgeübt werden. "Die Kritik betrifft sämtliche Entscheidungen, die eine Mutter in Bezug auf ihr Kind trifft", so die Expertin. Darunter Fragen der Erziehung, der Berufstätigkeit der Mutter, der Ernährung (Stillen oder Flaschennahrung), der Geburt (Kaiserschnitt oder natürliches Gebären), um nur ein paar wenige Themen zu nennen. Dabei ist der Grundgedanke hinter dem Mom-Shaming stets der Gleiche: Egal, was die Mutter macht – es ist falsch. Zum Beispiel: "Arbeitet sie zu viel, ist die Mutter karrieregeil, bleibt sie zuhause, ist sie faul und liegt dem Mann auf der Tasche."

Cover des Buches "Stop Mom-Shaming"
Als Mutter von fünf Kindern ist Familientherapeutin Katharina Pommer bestens vertraut mit den vielen Facetten des Mom-Shaming. Im ersten Lockdown schrieb sie ein Buch darüber.
© Goldegg Verlag

Dabei sind es oft Mütter, die sich gegenseitig erniedrigen, sich abfällige Blicke zuwerfen, vernichtende Kommentar unter einen Post schreiben oder bissige Sprüche von sich geben. Frauen mit Kinder bilden oft Grüppchen, von "Öko-Laissez-Faire-Müttern über Karrierefrauen und Insta-Muttis bis zu den Walddorflern“, beschreibt Katharina Pommer. Sobald sich ein Gegenpol zur eigenen Lebensweise auftut, verspüre man das Bedürfnis, sein eigenes Modell zu verteidigen. Die eigene Erziehungsmethode zu rechtfertigen, indem man andere herabsetzt. Ein Urinstinkt des Menschen, sagt die Expertin. "Weil man dadurch seinen Stellenwert in der Gesellschaft gefühlt erhöht: Wenn ich etwas besser weiß, habe ich eine höhere Stellung und mehr Macht." Mom-Shaming dreht sich im Grunde also weder um die anderen Mütter noch um die Kinder, sondern um die eigene Person – es ist ein Versuch, die eigenen Zweifel zu besiegen.

Social Media verstärkt "inneres Mom-Shaming"

Diese Selbstzweifel, die innere Stimme, die die eigenen Fähigkeiten als Mutter in Frage stellt, nennt die Therapeutin "inneres Mom-Shaming". Die vielen Mami-Blogger und scheinbar perfekten #MomLife-Accounts auf Instagram, die strahlende Mütter mit weiß gekleideten Sprösslingen in skandinavisch eingerichteten Häusern zeigen, nähren die eigene Unsicherheit. Von der vermeintlich heilen Welt, der optimierten Mutterschaft, die Frauen in sozialen Medien zur Schau stellen, erhoffen sie sich laut Katharina Pommer Anerkennung. Stattdessen sammeln sich unter den Postings oft gehässige Kommentare.

Zudem habe die Übermacht der auf Hochglanz polierten Mütter-Accounts eine Gegenbewegung ausgelöst: Mütter, "die ungeschönt und transparent ihren Alltag zeigen". Doch auch diese sehen sich regelmäßig mit Shitstorms konfrontiert. "Die Kommentare darunter sind weit über jeder Grenze des Respekts", berichtet die Expertin. Weil man im Netz anonym auftreten kann, sei die Hemmschwelle zum Mom-Shaming noch geringer.

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Dass beide Pole gleichermaßen Zielscheibe von Kritik und Häme werden, zeige laut Katharina Pommer das zugrunde liegende Problem ­­– und dass sich etwas ändern muss. Denn das permanente Mom-Shaming habe weitreichende psychische Folgen. "Es beeinträchtigt das Selbstwertgefühl, kann Selbstzweifel, Unsicherheit und Schuldgefühle auslösen", zählt die Therapeutin auf. Diese Emotionen können zu sozialer Isolation führen. "Mütter, die sich wiederholt kritisiert oder beschämt fühlen, ziehen sich aus dem sozialen Umfeld zurück und meiden den Kontakt mit anderen, um sich vor weiterem Mom-Shaming zu schützen."

Mom-Shaming im Berufsleben: Mehr Erwartungen, weniger Gehalt

Die Angst vor und die Scham über die Kritik können seelischen Stress erzeugen, was wiederum mit einer erhöhten Cortisol-Ausschüttung einhergeht – das könne auf Dauer krank machen, betont Katharina Pommer. "Viele Frauen berichten von Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Depressionen." Gerade Mütter, die in den sozialen Medien das optimierte und harmonische Leben gespiegelt bekommen, "fühlen sich grundsätzlich falsch und gehen erst sehr spät zum Arzt, weil sie sich schämen, Hilfe zu holen." Neben der mentalen Belastung könne Mom-Shaming auch die Bindung zwischen Mutter und Kind beeinflussen. Wenn Mütter an ihren Fähigkeiten als Elternteil zweifeln und sich unwohl in ihrer Rolle fühlen, könne das zu Spannungen führen. "Oder zu einer so großen Unsicherheit, dass sie sich gegenüber dem Kind gar keine Entscheidung mehr zutrauen", erklärt die Therapeutin.

Frau sitzt mit Baby auf dem Arm vor einem Laptop
Home Office soll einerseits für eine bessere Vereinbarkeit für Familie und den Beruf stehen, andererseits bedeutet es für Frauen oft eine Mehrfachbelastung
© Westend61

Dabei sei das Mom-Shaming, das Mütter untereinander betreiben, nur eine Facette des gesellschaftlichen Gesamtproblems. Der Begriff ist beliebig erweiterbar, meint Katharina Pommer. Zum Beispiel um die Benachteiligungen, die Mütter im Berufsleben erfahren. Dazu zitiert die Therapeutin zahlreiche Studien, die unter anderem beweisen, dass Frauen – auch wenn sie für den Job hochqualifiziert sind –­ mit Kindern deutlich seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden und weniger Gehalt bekommen als kinderlose Kolleginnen. Arbeite man zudem im Homeoffice, werde von den Frauen erwartet, dass sie "wenn sie doch schon Zuhause sind", sich nebenbei um Kind und Haushalt kümmern können. "Das ist seelisch ein unfassbarer Druck – und wirklich ein Missstand", klagt die Expertin. Schuld daran seien alte Frauenbilder, die noch immer tief in der Gesellschaft verankert sind.

Über Jahrhunderte kümmerte sich die Frau um die Kinder, während der Mann arbeiten ging. Im Zeitalter der Industrialisierung gingen beide Elternteile arbeiten, die Kinder blieben bei den Großeltern. Diese Generationsverbände, in denen man früher lebte, haben sich mittlerweile aufgelöst. "Familien sind heutzutage Einzelkämpfer, allen voran die Alleinerziehenden, von denen es immer mehr gibt", erläutert Pommer. An diese Situation habe sich die Arbeitswelt noch nicht angepasst. Von einem gesellschaftlichen Gap, der noch nicht geschlossen wurde, spricht die Expertin – oder, kurz gesagt: "Wir sind da massiv hinterher."

"Wir hatten es früher viel schwerer"

Ironischerweise trage die Emanzipationsbewegung, die den Frauen all die beruflichen Chancen ermöglicht hat, dazu bei, dass aktuelle Missstände, wie sie Katharina Pommer skizziert, ignoriert werden. Von älteren Generationen an Frauen und Mütter höre man da oft: "Stellt euch nicht so an. Wir hatten es früher viel schwerer." Damit spreche man der jüngeren Generation automatisch ihre Bedürfnisse ab, mahnt die Familientherapeutin. Zudem habe die Emanzipationsbewegung die Angriffsfläche für Mom-Shaming vergrößert. Mehr Optionen, mehr Möglichkeiten, mehr Erziehungsmethoden – all das sind mehr potenzielle Kritikpunkte.

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Hinzu kommen noch die strukturellen Hindernisse, mit denen Mütter zu kämpfen haben. "Wir leben in einer Gesellschaft, in der Kinder eher als lästig empfunden werden", sagt Katharina Pommer. Das beginne bei Taxen, die keine Kindersitze zur Verfügung stellen, gehe über "Adults only"-Hotels bis hin zur Wohnungssuche, bei der alleinerziehende Frauen mit Kindern meist nicht einmal eine Einladung zur Besichtigung erhalten. Die Familientherapeutin, selbst Mutter von fünf Kinder, habe solche Situationen oft genug selbst erlebt. "Wenn man so viele Kinder hat, gilt man sofort als sozialschwach oder es wird gesagt, dass mit der Familie etwas nicht stimmt", bedauert sie. Genauso veraltet sei die Meinung, dass die Mutter für jegliche Verhaltensauffälligkeit des Kindes verantwortlich sei. "Das ist ein Fingerzeig der Gesellschaft, den Mütter immer wieder erleben", sagt die Therapeutin.

Grenzen kommunizieren und ein unterstützendes Umfeld schaffen

Obwohl Mom-Shaming ein Thema sei, an dem kaum eine Mutter vorbeikommt, hätten vergleichsweise wenig Frauen von dem Phänomen gehört. "Viele wissen gar nicht, warum es ihnen schlecht geht und denken, dass es normal ist, kritisiert oder ausgegrenzt zu werden", sagt Katharina Pommer. Deshalb sei Aufklärung elementar. Genauso wichtig sei es, dass Mütter ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennen und respektieren lernen. Dazu gehöre auch, emotionale Distanz zu wahren und abwertende Kritik nicht persönlich zu nehmen. "Das ist das Schwierigste, denn es geht um das Kind – die Achillesferse einer Mutter", sagt die Expertin. Frauen sollten Mom-Shaming immer sofort ansprechen und den Gegenüber wissen lassen, dass man dessen Verhalten als übergriffig und verletzend empfindet. Erlebt man als Mutter Angst, Depressionen oder Stress, sollte man sich professionelle Hilfe holen.

Kind isst Spaghetti
Eine Szene aus einem ganz normalen Familienalltag. Außenstehende können Mütter unterstützen, indem sie Hilfe anbieten – und nicht abwertende Kritik.
© Ute Grabowsky / Picture Alliance

Das eigene Selbstvertrauen können Mütter auch stärken, indem sie sich Unterstützung holen: Ein Netzwerk aus Freunden, Familien und anderen Müttern schaffen, die helfen und ermutigen. Das Umfeld sollte bewusst dahingehend gewählt werden, dass man nicht ständig gedemütigt wird. Trotzdem sollten Mütter für ernst gemeinte Ratschläge und Tipps offen sein. "Es ist wichtig, im Austausch zu bleiben und Beobachtungen zu teilen, aber da benötigen wir eine andere Kultur des Miteinanders", findet Katharina Pommer. Es brauche eine sensiblere Kommunikationskultur, Unterstützung auf Augenhöhe statt von oben herab.

Eine Umgangsweise, die vor allem auch von der Politik vorgelebt werden sollte, fordert die Therapeutin. Sie wünscht sich "Räume, in denen Mütter aufrichtig und ehrlich über ihre Probleme sprechen können und von Gesellschaft und Politik ernstgenommen werden". Und auch von wirtschaftlicher Seite, von den Unternehmen, brauche es mehr Offenheit und die Bereitschaft, einen Wandel anzustoßen. Es müsse ein berufliches Umdenken stattfinden. Das sei ein "Prozess sein, der von der Führungsetage ganz klar benannt werden muss", findet Katharina Pommer.

Dabei gehe es stets um die abwertende Haltung den Müttern gegenüber, die sich durch alle diese Ebenen zieht und die sich drastisch ändern müsse ­– hin zu einer Kultur der Wertschätzung. Mom-Shaming passiere oft unbewusst. Erwischt man sich selbst dabei, könne man als Gegensatz zum abschätzigen Urteil, das man über die Person gefällt hat, einen positiven Aspekt an der Person herausstellen und in Gedanken würdigen. Und immer wieder hinterfragen, warum die negativen Gedanken aufgekommen sind: Geht es mir tatsächlich um die andere Person oder ist meine eigene Unsicherheit das Problem?