Stern Stunde Juli Zeh und Robert Habeck über die komplizierte Lage der Nation

Chefredakteur von stern, Robert Habeck und Juli Zeh sitzen auf einer Bühne und reden
Habeck und Zeh bei der Premiere des Live-Talk-Formats STERN STUNDE in Berlin
© Patrick Junker
Bei der ersten STERN STUNDE sprechen die Schriftstellerin Juli Zeh und Wirtschaftsminister Robert Habeck über die aktuellen Probleme Deutschlands. 

Frau Zeh, Herr Habeck, schön, dass Sie bei der ersten STERN STUNDE sind. Die Einstiegsfrage geht an Sie, Herr Habeck: Was war das letzte Buch, das Sie lesen konnten, das sich nicht um die Energiewende, Wirtschaftsförderung oder um Abfallwirtschaft drehte?
Robert Habeck: Das war von Ian McEwan "Lessons" (auf Deutsch: "Lektionen", d. Red.), eine Art Bildungsroman oder Biografie. Das habe ich um Ostern gelesen.

Sie haben auch Juli-Zeh-Bücher gelesen. Erkennen Sie sich darin manchmal wieder, wenn es um den Streit zwischen Stadt und Land geht oder um Minister, die für Windkraftanlagen werben müssen?
Habeck: Die ersten Bücher von Juli habe ich verschlungen. Dann haben sich andere Sachen vorgedrängelt. Aber natürlich sind das Themen, bei denen man sich wiedererkennt.

Portrait von Robert Habeck
Der Grünen-Politiker Robert Habeck, geboren 1969 in Lübeck, ist Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz
© Patrick Junker

Was sagt die Autorin? Muss Robert Habeck Juli Zeh lesen?
Juli Zeh: Natürlich nicht, der Mann hat echt viel zu tun, mehr als Sie und ich zusammen. Aber tatsächlich sind einige unserer Gespräche aus früheren Zeiten in den letzten Roman "Zwischen Welten" eingegangen. Weißt du noch, Robert, als wir uns in Hamburg-Rissen getroffen haben? Du warst Minister in Schleswig-Holstein, da haben wir einen langen Spaziergang gemacht und dabei über Landwirtschaftspolitik gesprochen, die Finanzierung von Biogasanlagen, so Sachen.

Habeck: Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich andere Sachen erzählt.

Portrait von Juli Zeh
Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, schrieb die Bestseller-Romane "Unterleuten" und "Über Menschen"
© Patrick Junker

Wie wurde eigentlich in der Romanwelt der Juli Zeh, also in Brandenburg, wo Sie leben, das Heizungsgesetz diskutiert?
Zeh: Manchmal denkt man tatsächlich, die Leute fürchten, dass der Robert persönlich mit der Rohrzange kommt und die Heizung von der Wand schraubt. Es gibt eine Menge Leute, die sagen, die Grünen wären für sie die allerallerletzte Partei im gesamten Universum, die sie wählen würden. Das ist nichts Neues, aber was ich erschreckend finde: dass manche sagen, sie wählen jetzt die AfD, nicht, weil sie die gut finden, sondern weil das die einzige Partei sei, die niemals mit den Grünen koalieren würde. Es ist eine wahnsinnige Kluft zwischen der Politik und den Menschen.

Tut Ihnen das weh, Herr Habeck? Sie haben weite Teile Ihrer politischen Karriere damit verbracht, in ländlichen Regionen für gegenseitiges Verständnis zu werben.
Habeck: Diese Gegensatzfigur Stadt-Land, Mann-Frau, Akademiker-Arbeiter, Bauer-Veganer – das ist nicht die Wirklichkeit. Das Leben ist nicht so eindeutig. Es herrscht im ländlichen Raum auch nicht nur dieser abfällige Blick auf die Großstadt. Man fährt da gern hin. Umgekehrt sind Leute, die in der Stadt leben, nicht nur Städter. Dieser Gegensatz mag als literarische Anordnung interessant sein, als gesellschaftliche Blaupause ist er fatal.

Frau Zeh, Sie sagten kürzlich im stern, auf dem Land zähle alles zur Elite, was überregional wirke. Also gilt dort auch Robert Habeck als Elite?
Zeh: Sowieso. Vielleicht ist das anders in Schleswig-Holstein, aber ich erlebe eine Form von Elitenverdrossenheit. Die ist real, jederzeit, überall spürbar und hörbar. Vor 20 Jahren haben wir über Politikverdrossenheit geredet, heute ist daraus Demokratieverdrossenheit geworden. Demokratie wird dann gleichgesetzt mit Elite, und die ist nun mal überregional.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Habeck: Ich habe viele Jahre meines Lebens selbst auf dem Land gelebt, war als Minister dafür zuständig, Bauern, Schäfer, Fischer für eine verändernde Politik mitzunehmen. Mein Bild vom Land ist anders als das, was Juli Zeh in ihrer Literatur zeichnet. Jedenfalls sollte man sich nicht einreden, dass es nicht anders werden kann.

Der Bundeskanzler hat den Menschen, die sich übersehen fühlen, "Respekt" versprochen. Juli Zeh sagt, der Schornsteinfeger habe nichts davon, wenn man ihm sagt: "Ich respektiere dich". Hat sie recht?
Habeck: Wie wichtig Anerkennung ist, sollte man nicht unterschätzen. Ein Grund für die Polarisierung ist ja nicht, dass Menschen böse sind. Es liegt an den Paradoxien der Moderne. Jeder würde sagen, Bildung ist gut. Aber ein Studium oder eine Ausbildung bedeuten häufig eben auch, dass einige vom Land in die Stadt gehen. Zurückbleiben öfter jene, die nicht an die Universitäten und Fachhochschulen gehen. Im Bundestag sitzen jede Menge Juristen, Steuerberater – das ist nicht der Durchschnitt der Bevölkerung. Aber wenn die mit den akademischen Abschlüssen auch noch sagen, na ja, ihr seid zwar nicht im Bundestag und verdient nur ein Zehntel dessen, was wir verdienen, aber mein Lob habt ihr, besteht die latente Gefahr, dass daraus Paternalismus wird. Respekt spielt eine große Rolle, aber es kann nicht beim Beklatschen bleiben, sondern es geht um das konkrete Tun.

Während die Populisten immer weiter auf dem Vormarsch sind, hat die Ampel in der Bevölkerung deutlich an Rückhalt verloren. Wann ist das gekippt?
Habeck: Rechten Populismus gibt es heute in nahezu allen europäischen Staaten. Das hat mit der Regierung erst mal nichts zu tun. Es ist ein Phänomen der Spätmoderne, der Globalisierung, die Gewinner und Verlierer produziert. Das Phänomen ist viel zu groß, um zu sagen, es gibt nur die eine Ursache.

Aber wann ist es in Deutschland gekippt?
Habeck: Ich denke, im letzten halben Jahr. Es hat sich so eine Art Krisenerschöpfung eingestellt – nach Corona, dem Angriff auf die Ukraine, dazu die hohe Inflation, die Unsicherheit angesichts globaler Verschiebungen. All das ist Stoff für Verunsicherung, und davon lebt der Populismus.

Frau Zeh, wie kommt es, dass der große Kommunikator Robert Habeck nicht mehr so durchdringt?
Zeh: Es greift zu kurz, danach zu fragen, ob Robert als Person noch der Messias ist. Es geht um eine langjährige Vertrauenskrise. Dabei heißt Polarisierung gar nicht unbedingt, dass die Leute substanziell anderer Meinung sind. Man will auf dem Land genauso bessere Schulen wie in der Stadt. Ich habe auch in meinem provinziellen Umfeld nie jemanden sagen gehört: Ach, lass uns doch alle schön weiter mit Öl, Gas und Kohle heizen. Die Leute sind nicht per se gegen Klimaschutz. Es geht um die Frage: Wer trifft die Entscheidungen? Sind das gute Entscheidungen? Demokratie verlangt Vertrauen in die Regierenden, dass die ihre Sache einigermaßen gut machen.

Also zweifeln die Leute eher am Handwerk der Regierung?
Zeh: Das Misstrauen ist ein tief verwurzeltes Unbehagen, dass man von Leuten regiert wird, denen man nicht zutraut, die eigenen Interessen zu vertreten. Viele glauben, dass die Mächtigen im Land den Kontakt zur Bevölkerung verloren haben. Dazu die vielen Umwälzungen, sodass Leute das Gefühl haben, alles ist außer Kontrolle.

Geht Populismus auch im positiven Sinne? Wie erzählt man ein "Wir schaffen das" für den Klimawandel?
Habeck: Die gute Nachricht verkauft sich schlecht. Aber meine Antwort lautet trotzdem: Wir können uns nicht über Angst und angstmachende Szenarien darauf verständigen, was wir wollen. Das geht schief. Es kann nur gelingen, wenn man mit Stolz eine positive Geschichte erzählt, also erklärt, wo wir hinwollen und wie das geht. Aber wir müssen zugeben, dass uns das in den letzten Monaten nicht so gut gelungen ist.

stern-Chefredakteur mit Juli Zeh und Robert Habeck
stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz (l.) im Gespräch mit Juli Zeh und Robert Habeck
© Patrick Junker

Und woran liegt das?
Habeck: Das hat auch mit der politischen Konstellation zu tun. Die Ampel ist nicht geübt, es gab keine politisch intellektuelle Vorbereitung. Es gab die Bundestagswahl und, hops, es war die Ampel. Andere Bündnisse haben Spiegelungen in den Ländern. Das ist keine Entschuldigung. Und auch den Punkt gebe ich Juli: Wenn wir uns auf offener Bühne wie die Kesselflicker streiten, führt das nicht zu Autoritätsgewinnen. Es muss kein einstimmiger Chor sein, aber es braucht einen Diskurs, der Gegensätze akzeptiert und überwindet.

Es konnte Sie nicht überraschen, dass so etwas wie der "Heizhammer" in den Springermedien auftaucht gegen das Gebäudeenergiegesetz. Muss man das nicht antizipieren, wenn man so einen Wandel anstößt?
Habeck: Ich räume ein, dass ich den Moment verpasst habe, in dem die große Angst vor einer Gasmangellage anderen Sorgen gewichen ist. Da fällt mir kein Zacken aus der Krone.

Haben Sie den Moment in Brandenburg klarer kommen gesehen, Frau Zeh?
Zeh: Das ist überhaupt nicht der Punkt. Das Heizungsgesetz ist nur ein kleiner Baustein, ein Symptom für eine Gesamtlage.

Habeck: Danke.

Aber es gab eine heftige Diskussion.
Zeh: Natürlich, weil es die Leute unmittelbar betrifft, egal, ob ganz real oder gefühlt. Jetzt war es das Heizungsgesetz, es wird bald etwas anderes sein. Und noch ein Wort zum Thema "positive Erzählung": Das klingt, als wollte man den Leuten ein Märchen verkaufen. Das ist nicht gemeint. Es geht vielmehr um unsere Freiheit als Mensch. Wir können doch in Wahrheit wenig Kontrolle über die Welt ausüben, nicht mal das eigene Leben haben wir im Griff. Aber wir haben die Freiheit, die Sachen auf eine bestimmte Weise in den Blick zu nehmen, eine Perspektive zu finden. Man ist immer frei, eine konstruktive Haltung einzunehmen. Da beobachte ich seit einiger Zeit etwas, das ich fatal finde: Eine positive Haltung wird abgestraft als Verharmlosung. Und ich rede nicht nur von Brandenburger Bürgern, da spielen Medien als Vermittler eine riesige Rolle.

Hat die Politik, haben Sie, Herr Habeck, selbst den Fehler gemacht, den Leuten das Gefühl zu geben, dass man sie bevormundet, dass man ihnen nicht selbst die Entscheidung überlässt?
Habeck: Ich hatte heute Besuch von Bürgermeistern aus der Lausitz. Lausitz ist Braunkohle, Synonym für Transformation im Osten. Die LEAG, das ist der Braunkohlekonzern, hat am Anfang nur gesagt, bei uns brauchst du dich nicht blicken zu lassen. Da war Misstrauen. Nun haben sich zwei Dinge geändert. Ich sage den Leuten, der Kohleausstieg wird früher oder später kommen, es kommt auf den Tag nicht an. Wir müssen das nicht gesetzlich vorziehen, wir müssen es gut vorbereiten. Die wiederum planen Wasserstoffkraftwerke, den Ausbau erneuerbarer Energien, sogar die Produktion von Solarpanels. Und jetzt sagen sie: Hilf uns, diese Pläne in die Gegenwart zu bringen! Es ist vielleicht interessanter, zu beschreiben, wie ich ausgepfiffen werde. Aber die Wirklichkeit ist anders.

Wenn Ihre Erzählung stimmt, müssten sich die Parteien gegenseitig unterhaken. Das Gegenteil passiert: CDU-Chef Friedrich Merz hat die Grünen zum Hauptgegner erklärt, mit denen könne man auf keinen Fall koalieren. Stört Sie das?
Habeck: Es ist verwunderlich, weil in etlichen Bundesländern schwarz und grün gemeinsam regieren und er die Rechnung offensichtlich ohne seine Partei gemacht hat. Aber ich bin nicht der Pressesprecher von Friedrich Merz. Wäre ich es, würde ich sagen: Nun hör mal auf, solchen Unsinn zu erzählen. Aber bitte, er kann so viel Unsinn erzählen, wie er will.

Robert Habeck
"Es ist interessanter, zu beschreiben, wie ich ausgepfiffen werde" sagt Robert Habeck bei der ersten STERN STUNDE
© Patrick Junker

Müsste Merz dann nicht alle schwarz-grünen Koalitionen auflösen?
Habeck: Schauen Sie auf mein Bundesland Schleswig-Holstein. Daniel Günther, der Ministerpräsident von der CDU, hatte nach der letzten Landtagswahl vor einem halben Jahr zwei Optionen. Er hat sich gegen die FDP und für die Grünen entschieden. Das heißt, das Gegenteil von dem, was Friedrich Merz dauernd erzählt, ist die Realität.

Mit Daniel Günther wäre eine Koalition im Bund wieder möglich?
Habeck: Ich glaube jedenfalls nicht, dass Daniel Günther vor lauter Ehrfurcht klatscht, wenn er Friedrich Merz hört.

Zeh: Noch ein paar Sätze zum Unterhaken: Ich weiß nicht, woher dieser Wunsch kommt, es scheint mir fast eine Art Dogma zu sein. Als müsste man sich in einer Demokratie total einig sein, angesichts der Größe der Herausforderung oder der Umfrageerfolge der AfD. Darum dürfe es keinen Streit mehr geben, man müsse sich unterhaken und als starke Front in die Zukunft sehen. Das ist nicht gerade eine Einladung zum Gespräch.

Das fordert auch der Kanzler.
Zeh: Das ist sein Problem. Ich glaube, dass wir dadurch die demokratische Idee von hinten her aushöhlen. Viele fragen sich, warum sind die Leute eigentlich so aggro? Warum kann man heute für einen blöd gesagten Satz auf einem Podium live bei stern.de und ntv auf Twitter hingerichtet werden? Ich glaube, es hat mit dem Gefühl zu tun, wir könnten uns nur noch Konformität erlauben angesichts der Dauerkrise. Wer andere Positionen vertritt, wird als Abweichler angesehen. Wir müssen wirklich aufpassen, dass nicht eine Idee vom dauernden Ausnahmezustand den gesellschaftlichen Frieden gefährdet.

Auf der anderen Seite erleben wir einen Vorsitzenden der Freien Wähler, der durch die Bierzelte zieht, sich feiern lässt für Wörter wie "Hexenjagd" und "Hetzkampagne". Frau Zeh, könnte Hubert Aiwanger auch auf Brandenburger Volksfesten Erfolge feiern?
Zeh: Der kann Erfolg haben mit einer ziemlich simplen Form von Slogans. Ich habe manchmal den Eindruck, ich könnte einen Ratgeber für Rechtspopulisten schreiben. Den brauchen sie natürlich nicht, weil sie selbst immer besser darin werden. Aber es gibt so ein paar Themenfelder, die sie noch nicht für sich entdeckt haben. Gnade uns Gott, wenn sie darauf kommen.  

Welche denn? 
Zeh: Die Mangelwirtschaft an Grundschulen und Kindergärten zum Beispiel. Es ist ja nicht so, dass sie sich die Probleme ausdenken müssten. Das Perfide am Rechtspopulismus ist, dass er in griffigen Slogans alles anprangern und alles fordern kann. Er ist nicht darauf angewiesen, ein solides politisches Programm zu entwickeln.

Habeck: Da kommt noch etwas Zweites hinzu. Es gibt eine moderne Erzählung, die sagt: Du kannst es schaffen, also streng dich an, es liegt an dir. Am stärksten ist das in den USA ausgeprägt. Der Umkehrschluss ist aber, wenn du es nicht geschafft hast, zur Elite zu gehören, liegt es ebenfalls an dir. Totaler Unsinn! Es liegt oft am Zufall, an sozialer Abhängigkeit, an dem, was einem im Leben begegnet, welche Talente gerade gebraucht werden. 

Zeh: Ich fürchte, die Ansprache, die von oben kommt, von den sogenannten Eliten, hat diese Verdrossenheit massiv befeuert. Erinnern wir uns an die Coronazeit. Da hätte man verschiedener Auffassung sein können etwa beim Thema Impfen. Es herrschte eine riesige Unsicherheit, niemand wusste, was der goldene Weg ist. Man hätte sachlich und vernünftig streiten können, aber es wehte halt von oben nach unten: "Ihr seid dumm, ihr habt es nicht verstanden, ihr seid Querdenker, ihr seid vielleicht sogar alle Nazis."

Juli Zeh
"Die Leute sind nicht per se gegen Klimaschutz" sagt Juli Zeh in der ersten STERN STUNDE
© Patrick Junker

Viele Leute haben gerade das Gefühl, dass Deutschland wirtschaftlich absteigt. Andere Volkswirtschaften wachsen, unsere schrumpft. Es herrscht das Gefühl, wir werden nach unten durchgereicht.  
Habeck: Die Sorge kenn ich, aber die Wirklichkeit ist differenzierter. 

Sie haben neulich gesagt, Herr Habeck, Deutschland sei ein wenig untrainiert. Bringt diese Art der Verharmlosung die Leute nicht auf die Palme? 
Habeck: Es ging dabei um die Frage, ob Deutschland wieder der kranke Mann Europas sei, wie der "Economist" vor fast 25 Jahren geschrieben hat. Der Erfinder dieses Ausdrucks hat selbst gesagt, das Bild passe überhaupt nicht zu dem, was heute hierzulande passiert. Da habe ich versucht, ein anderes Bild zu finden.

Das müssen Sie erklären.
Habeck: Ich will nichts beschönigen, vier Themengebiete bereiten in ihrer Kombination Grund zur Sorge. Die hohe Exportabhängigkeit, vor allem von China, die hohen Energiepreise, die schädliche Inflation, die wiederum mit hohen Zinsen bekämpft wird. Und einen vierten Punkt habe ich mit "etwas untrainiert" beschrieben: Wie viele Seiten, glauben Sie, braucht es, um 90 Kilometer Stromnetz zu genehmigen? Tausende! Als ich das zum ersten Mal hörte, dachte ich: Die liest doch keiner. Doch, wurde mir versichert. Uns fehlen Fachkräfte, wir haben eine überbordende Bürokratie, zu wenig Digitalisierung. Das meine ich mit "untrainiert". Aber wir haben eben auch enorme Stärken und gehen die Probleme mit großer Konzentration an.

Die Probleme wurden über Jahre auch von der Vorgängerregierung mit verursacht. Doch einige Dax-Vorstände sagen: Robert Habeck und die Grünen sehen Industriekonzerne als Gegner, weil sie schlecht fürs Klima sind. Was entgegnen Sie?  
Habeck: Das ist falsch, deckt sich in keiner Weise mit der Politik und auch nicht mit meinen Kontakten zur Wirtschaft. Ich war es, der gesagt hat: Jetzt lasst uns mal sehen, dass wir diese Phase mit einem Brückenstrompreis ausbalancieren, dass die Industrie eine Subvention bekommt.  

Was beeindruckt Sie am meisten an der deutschen Wirtschaft? 
Habeck: Die Fähigkeit, sich schnell an Situationen anzupassen. Dass wir über diesen Winter gekommen sind, trotz immer weniger Gas, ohne dass die Wirtschaft zusammengebrochen ist, ist eine enorme Leistung der Unternehmen. Mittelfristig werden wir die Frage beantworten müssen, wie wir diese Phase so überbrücken, dass sie auch noch 2030 hier sind. Viele Ökonomen sagen, ein Brückenstrompreis verhindere die notwendige Anpassung. Was sie eigentlich sagen: Diese Industrien haben in Deutschland keine Zukunft. Aber der Industriestrompreis ist natürlich auch ein Industrie-Arbeiter-Strompreis. Da arbeiten Leute, und "Anpassung" heißt, diese Leute werden da in Zukunft nicht mehr arbeiten. Da müssen wir industriepolitisch gegenhalten.

Zeh: Wissen Sie, was ich mich manchmal frage? Wann war eigentlich das Jahr, in dem Deutschland perfekt funktioniert hat, einfach keinerlei wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme existierten? Wir haben uns doch Jahrzehnte lang mit Arbeitslosigkeit herumgeschlagen, die zu ungeheuren Verwerfungen geführt hat. Jetzt leben wir in einer Phase, da dieses Problem komplett in den Hintergrund geraten ist. Es gibt kein Empfinden dafür, dass wir auch ein paar Sachen gut hingekriegt haben. 

Wäre es wieder an der Zeit für eine Ruck-Rede? Und wäre der Kanzler der richtige Redner?
Habeck: Am Ende der Legislaturperiode wird die Rechnung gestellt, dann schauen wir, wie gut sich das Land entwickelt hat – wirtschaftlich, klimapolitisch, sozial. Wenn die Richtung stimmt, haben wir unseren Job gemacht. Wenn nicht, haben wir ihn nicht gemacht. Da kannst du Reden halten, wie du willst.   

Hätten Sie und der Kanzler nicht trotzdem besser kommunizieren müssen?  
Habeck: Es ist Unsinn zu glauben, dass die AfD bei drei Prozent stünde, wenn das Heizungsgesetz gleich so gekommen wäre, wie es jetzt kommen wird. Da reicht nicht die eine Ruck-Rede. Wir brauchen einen dauerhaften Diskurs: Okay, die Herausforderungen sind da, es ist nicht alles leicht, aber lasst uns da gemeinsam durch, wir können das hinkriegen.

Zwei kurze Fragen zum Schluss. Frau Zeh, wenn Sie über die aktuelle Ampelregierung einen Roman schreiben müssten, wie würde der heißen?   
Zeh: Ich würde ihn wahrscheinlich mit diesem berühmten Brandenburger Satz überschreiben: Irgendwas ist immer.

Herr Habeck, was haben Sie gedacht, als Sie das Foto von Olaf Scholz mit der Augenklappe gesehen haben? 
Habeck: Zuerst an eine Collage. Dann habe ich ihm sofort gesimst und gute Genesung gewünscht.

Frau Zeh, Herr Habeck, herzlichen Dank für Ihre Teilnahme an der ersten STERN STUNDE.

Gregor Peter Schmitz, Vorsitzender der Chefredaktion des Stern mit Robert Habeck und Juli Zeh
Der Vorsitzende der stern-Chefredaktion, Gregor Peter Schmitz (l.), führte durch den Gesprächsabend mit Habeck (Mitte) und der Autorin Juli Zeh
© Patrick Junker / STERN
Hier sehen Sie die gesamte Sendung mit Robert Habeck und Juli Zeh
Erschienen in stern 38/2023