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Paulina Reineke-Rügge Politikerin fordert oben ohne für alle im Schwimmbad – ein Gespräch über Brüste, Hass und Gleichberechtigung

Paulina Reineke-Rügge, SPD, Abgeordnete in der Bezirksversammlung Hamburg-Eimsbüttel
Paulina Reineke-Rügge, SPD-Bezirksabgeordnete in Hamburg-Eimsbüttel
© key
Göttingen und Siegen haben es vorgemacht, jetzt fordert die SPD in einem Hamburger Bezirk oben ohne für alle im Schwimmbad. Dabei geht man hier bereits recht offen mit Nacktheit um. Mit dem stern spricht Politikerin Paulina Reineke-Rügge über Gleichberechtigung und Applaus, auf den sie gerne verzichten würde.

Es ist heiß in Hamburg. 31 Grad. Bestes Freibadwetter. Ums Baden soll es bei diesem Treffen auch gehen. Denn die SPD im Bezirk Eimsbüttel fordert oben ohne für alle im Schwimmbad. Verantwortlich für den Antrag ist die Bezirksabgeordnete Paulina Reineke-Rügge. Wir haben uns am späten Nachmittag auf ein kühles Getränk verabredet. Reineke-Rügge kommt gerade von der Arbeit, Marketingbereich, nebenbei macht die 27-Jährige ihren Master fertig. 

Sie bestellt eine Apfelschorle und erzählt mit Tempo, aber unaufgeregt, wie die Idee entstand: wegen des Falls in Göttingen. Eine non-binäre Person, die sich weder als Frau noch als Mann identifiziert, hatte ihre Brüste entblößt und musste das Freibad verlassen – ein Verstoß gegen die Badeordnung. 

Es gab eine Debatte und eine neue Regelung: Seit 1. Mai dürfen in Göttingen alle Menschen, egal welchen Geschlechts, oben ohne schwimmen ­– zumindest an den Wochenenden. Reineke-Rügge sagt: "Dieser Fall hat gezeigt, dass die aktuellen Regeln nicht mehr zeitgemäß sind und das wollen wir auch bei uns im Bezirk ändern. Hier geht es um Gleichberechtigung." Ein Thema, für das sich die Abgeordnete neben Umwelt-Themen starkmacht. Sie mag "die kleinen Veränderungen, die den Alltag doch deutlich besser machen".

Gute Sitten, Ruhe und Ordnung

Aber braucht es in Hamburg überhaupt eine Veränderung? Bäderland-Sprecher Michael Dietel sagt, es sei schon jetzt möglich, in den Freibädern mit freiem Oberköper die Sonne zu genießen ­– und zwar für alle. Die Hausordnung besage, dass alles zu unterlassen ist, was den guten Sitten und dem Aufrechterhalten der Ruhe und der Ordnung zuwider läuft.

Solange sich niemand an nackten Brüsten stört, stellen sie auch kein Problem dar.

Und bislang sei es nie ein Problem gewesen. Was, wenn doch einmal? "Dann versuchen wir in einem ersten Schritt, einen Kompromiss zu finden. Warum stört sich die Person an der Nacktheit? Im Gespräch lassen sich Konflikte oft schnell lösen. Wenn das nicht ginge, würden wir die Beteiligten fragen, ob es ihnen etwas ausmachen würde sich aus dem Weg zu gehen, sich voneinander entfernt hinzulegen. Erst wenn da keine Kompromissbereitschaft erkennbar ist, bitten wir die Frau sich etwas anzuziehen". Beim Blick in die Runde der Badbesucher sei ja offenkundig, dass oben ohne derzeit in Deutschland nicht üblich sei. Dass jemand das Bad verlassen müsse, wäre wirklich der allerletzte Schritt, so Dietel. "Und es ist, wie gesagt, meines Wissens noch nie vorgekommen."

Er findet das Thema für eine bunte und traditionell weltoffene Stadt wie Hamburg nicht besonders akut, einerseits, da es unter den rund 4,5 Millionen Gästen des Unternehmens pro Jahr nicht gegenüber dem Badbetreiber thematisiert worden sei. Andererseits, da es in Hamburg eigens Angebote für FKK-Schwimmen gäbe. Er verweist im Zusammenhang mit der Oben-ohne-für-alle-Forderung zudem auf Kinder und Jugendliche, die es neben Gewalt und Drogen per Jugendschutzgesetz auch vor zu viel Freizügigkeit zu schützen gelte.

Oben ohne für alle im Schwimmbad: Lösung für ein Problem, das keines ist? 

Alles entspannt also in den Hamburger Bädern, wie es scheint. Der große gesellschaftliche Aufschrei für mehr nackte Brüste auf Liegewiesen und in Schwimmecken war in den vergangenen Jahren auch ausgeblieben. Ist oben ohne für alle eine Forderung, die an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht?

Ein junger Mann springt im Freibad von einem Sprungbrett ins Wasser
Oberkörper frei ins Wasser. Sollte das nur für Männer gelten? 
© Markus Scholz / Picture Alliance

Auf der kleinen Holzbank unter dem Café-Sonnenschirm sagt Paulina Reineke-Rügge: "Viele wissen nicht, dass sie das dürfen. Es herrscht eine Verunsicherung. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die sich im Urlaub oder an Seen gerne oben ohne sonnen und die das gerne auch im Freibad machen würden, die aber schlichtweg immer dachten, das sei verboten. Die aktuelle Formulierung ist zu ungenau. Bei 'sittlich' dürften die meisten an angezogen denken. Wir möchten, dass oben ohne für alle ausdrücklich erlaubt wird. Ein Schild irgendwo im Bad, das darauf hinweist, das wäre ideal."

Massenschlägerei in einem Schwimmbad in Berlin

Zum Argument des Kinder- und Jugendschutzes sagt sie: "Ich sehe darin kein Problem. Wenn wir als Gesellschaft einen entspannteren Umgang mit Brüsten und weiblicher Nacktheit hätten, hätten auch Jugendliche einen freieren Umgang damit." Kinderschutzbund-Sprecherin Juliane Wlodarczak fasst sich auf Anfrage des stern zur oben-ohne-für alle-Forderung kurz und sagt: "Wir sehen da grundsätzlich kein Problem für Kinder und Jugendliche."

Mehr als ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland findet den Ansatz gut

Für Paulina Reineke-Rügge geht es hier auch um eine größere Debatte. Brüste seien etwas ganz Natürliches. "Sie sind genauso sekundäre Geschlechtsmerkmale wie ein Bart bei einem Mann oder ein Adamsapfel." Sie findet, Frauen sollten beispielsweise überall problemlos stillen können.  Außerhalb des Freibadzauns gibt es diese Forderung einer Normalisierung von Brustwarzen und Brüsten längst. "Gleiche Brust für alle" und "Free The Nipple" lauten die Parolen für mehr Gleichberechtigung.

Im Sommer 2022 ist die Debatte in den Freibädern mehrerer Städte angekommen. In Berlin wurde sie bereits im vergangenen Jahr geführt, als eine Frau Ärger mit der Polizei bekam, weil sie sich an einer Kinderplansche oben ohne gesonnt hatte. Die Frau verklagte den Bezirk wegen Diskriminierung. Eine Entscheidung steht noch aus. In diesem Sommer beschäftigten nackte Brüste dann erst Göttingen; es folgte Siegen, wo auf einen Antrag der Volt-Partei hin künftig alle Gäste der städtischen Bäder oben ohne schwimmen können. Und jetzt also Hamburg. Im Netz ist das Thema ohnehin schon zum Sommerhit geworden.

Ein aktuelles Stimmungsbild aus der Bevölkerung liegt inzwischen ebenfalls vor. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur zeigt, dass mehr als ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland den Ansatz gut findet, Frauen das Tragen eines Oberteils nicht unbedingt vorzuschreiben. Im Osten, wo es eine ausgeprägte FKK-Kultur gibt, sind es mehr als im Westen (44 gegen 35 Prozent). Jedoch finden bundesweit 28 Prozent das Oben-ohne-Baden von Frauen "nicht gut" (Ost: 23 Prozent, West: 35). Der Rest ist unentschieden oder machte keine Angabe. Auf die Frage "Erste Bäder erlauben nackte weibliche Oberkörper zu bestimmten Zeiten – wie finden Sie das?" antworteten 46 Prozent der männlichen Befragten mit "sehr gut" oder "eher gut", bei den Frauen waren es dagegen nur 28 Prozent.

FKK-Strand in Binz auf Rügen mit einem nackten Mann im Hintergrund
Hier ist Nacktsein ausdrücklich erlaubt und erwünscht: FKK-Strand auf der Insel Rügen
© Jens Koehler / Picture Alliance

Schaut man in die Altersgruppen, so ist bei den männlichen Befragten die Zustimmung überdurchschnittlich hoch bei den 25- bis 34-Jährigen, den 45- bis 54-Jährigen und den Männern, die älter als 55 sind. Junge Männer (18 bis 24) antworteten weit unter dem Durchschnitt zu 32 Prozent positiv, während gleichaltrige Frauen recht positiv eingestellt sind (41 Prozent).

Auf den Applaus von rechts hätte sie gerne verzichtet

Paulina Reineke-Rügge nimmt einen Schluck Apfelschorle und beantwortet dann eine Frage, die sie nicht zum ersten Mal hört: Würde sie selbst gerne oben ohne ins Freibad gehen? "Auf der Liegewiese könnte ich mir das gut vorstellen. Beim Schwimmen – warum nicht? Vielleicht für ein paar Bahnen." Ihr gehe es nicht darum, dass jetzt alle Frauen bitte oben ohne unterwegs sein sollten.

Aber es wäre auf jeden Fall ein Zeichen für die Gleichberechtigung und würde auch non-binären Personen eine Sicherheit geben.

"Untenrum" sieht Reineke-Rügge das Ganze etwas anders. "Ich denke bei den primären Geschlechtsorganen ist es nochmals etwas anderes. Da ist – im Gegensatz zu den Brüsten – eine sexuelle Aufladung nicht von der Hand zu weisen."

Der Antrag der SPD in Eimsbüttel hat etliche Reaktionen ausgelöst – auch weit über den Bezirk und die Stadt hinaus. "Das hat mich total überrascht. Auch das große mediale Interesse", sagt Reineke-Rügge. Sie habe privat bei Instagram ganz viele Reaktionen bekommen, viel Unterstützung, aber auch viel Hass. Einige würden in der Forderung nach freien Brüsten "den Untergang Deutschlands" sehen. Andere laden es nationalistisch auf. Mit solchen positiven Reaktionen von rechts, die vor allem von jungen Männern kommen, hatte Reineke-Rügge nicht gerechnet. Ein Applaus, auf den sie gerne verzichtet hätte. "Da wird es dann schnell antimuslimisch und ausländerfeindlich, das ist richtig übel."

Eine Überwachungskamera hat gefilmt, wie ein Dreijähriger in einem Schwimmbad in Florida beinahe ertrinkt und schließlich wiederbelebt wird

Unter den Reaktionen ist auch viel Anzügliches. "Da schreiben Typen dann, ich soll ihnen meine Brüste zeigen und dass sie sich richtig auf den nächsten Besuch im Freibad freuen, wenn da dann überall nackte Brüste zu sehen sind." Denkt sie in solchen Momenten, Frauen sollten sich zu ihrem eigenen Schutz vielleicht doch nicht oben ohne im Freibad zeigen? "Nein. Das sind die üblichen Internet-Männer, die zu viel Zeit vor ihrem Computer verbringen. Das sind bestimmt nicht die, die ins Freibad gehen. Und wenn sie deshalb ins Freibad gehen, waren sie schon vorher vermutlich Gaffer, gegen die insgesamt was getan werden muss – ob mit oder ohne Oberteil."

Ein Argument von Gegnern einer Oben-ohne-für-alle-Regel, das sie stört, ist die Angst vor Übergriffen. "Das ist für mich klassische Opfer-Täter-Umkehr. Wenn Männer sich nicht im Griff haben, dann ist das ihr Problem und sicher nicht das der Frau. Den Körper einer Frau als Angriffsfläche zu betrachten, finde ich ganz einfach falsch."

Da kommt bereits die nächste Beleidigung 

Als Reineke-Rügge von der Holzbank aufsteht, nimmt sie ihr Telefon in die Hand, das sie an einer Kordel um den Hals trägt. "Da kam grad wieder eine Nachricht." Ein Roland hat ihr bei Instagram privat geschrieben. Das Foto zeigt einen Mann, vielleicht um die 50: "Du willst oben ohne für alle im Freibad? Bist du dumm oder was?" Wie sehr belastet sie das? "Nicht wirklich. Aber die heftigen Sachen und wenn sie von größeren Accounts kommen, bringen wir schon zur Anzeige. Wenn es um Drohungen geht oder wenn ich heftig beleidigt werde."

Am Donnerstag wird der Antrag in der Bezirksversammlung behandelt. SPD und Grüne sind schon mal dafür. Es gilt als sicher, dass er angenommen wird. Allerdings ist die Entscheidung für Bäderland nicht bindend, sondern lediglich eine Empfehlung.

Bäderland-Sprecher Dietel sagt, es brauche eine gesellschaftliche und sozialpolitische Diskussion, inwieweit oben ohne für alle gewünscht wäre. "Und am Ende gilt: Wir sind als Bäder so weit es geht unpolitisch. Wir bieten geschützte Orte für alle Menschen in der Stadt. Wir machen die gesellschaftlichen Regeln nicht, wir setzen sie nur um." Womöglich finden solche Diskussionen in den nächsten Wochen ja auf Wiesen und am Beckenrand statt. Der Sommer hat gerade begonnen. 

Quellen:SPD Fraktion Eimsbüttel, Berliner Zeitung, mit Material der dpa

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