"Nachbarschaftshilfe ist üblicherweise ein gewohnheitsmäßiges und wenig formalisiertes Instrument sozialer Gemeinschaften zur Bewältigung von individuellen oder gemeinschaftlichen Bedürfnissen, Notlagen und Krisen." So nüchtern definiert die Wikipedia das, was in der Coronavirus-Krise besonders gebraucht wird. Das Zusammenrücken der Menschen in unserem Umfeld, die Solidarität in der Nachbarschaft.
Weil das physische Zusammenrücken in diesen Zeiten jedoch tunlichst unterbleiben sollte, organisieren sich die Menschen virtuell.
Der stern stellt drei Projekte digitaler Nachbarschaftshilfe vor – exemplarisch für unzählige Initiativen von Menschen im Land, die sich für andere einsetzen.
"Coronahilfe Hamburg"
In der Corona-Krise werden die sozialen Netzwerke ihrem Namen gerecht, ein Beispiel ist die Facebook-Gruppe "Coronahilfe Hamburg". Wie unzählige ähnliche Initiativen bundesweit bringt auch sie Helfer und Hilfesuchende zusammen, berichtet Cornelia Lindberg aus dem Team der "Coronahilfe Hamburg" im Gespräch mit dem stern.

Das Motto „Gemeinsam gegen Corona“ markiert Berichterstattung und Initiativen über besonders solidarische und bemerkenswerte Projekte im Kampf gegen Corona. Initiator der Aktion ist die Bertelsmann Content Alliance, zu der auch der Verlag Gruner+Jahr gehört, in dem der stern erscheint.
Gegründet wurde die Gruppe am 12. März von Werbeberater Claudius Holler. "Ihm war klar, dass durch die Krise vor allem die Schwächsten in unserer Gesellschaft Probleme bekommen werden und wollte helfen", erzählt Lindberg. Inzwischen seien es 15 Mitstreiter, die sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich um die Organisation der Gruppe kümmern. "Die meisten von uns kommen aus dem Medien-, Marketing- und PR-Bereich. Wir wollten uns mit dem einbringen, womit wir uns auskennen: Kommunikation", sagt Lindberg, die normalerweise selbst als freie Kommunikationsberaterin tätig ist. Aber auch eine Ärztin sei mit am Bord. "Das hilft uns ungemein, um zum Beispiel Falschinformationen zum Coronavirus entgegenzutreten". Denn im Vordergrund der Gruppe soll die Hilfe stehen. "Wir wollen kein Hate Speech in der Gruppe, keine sinnlosen Diskussionen, keine Fake News."

Das Konzept geht auf. Inzwischen zählt die "Coronahilfe Hamburg" weit mehr als 8000 Mitglieder. Fast im Minutentakt gehen die Hilfsangebote ein. "Biete Unterstützung bei Fragen und Klärungsbedarfen zur Beantragung der Hamburger Corona-Soforthilfe", "Ich biete in Barmbek-Nord bei Bedarf kleine Einkäufe und Gassiservice an", "Biete meine Hilfe bei jeglichen Fragen und Themen rund um den PC an" – es sind meist die kleinen Dinge im Alltag, zu denen die Mitglieder anderen Hamburgern ihre Unterstützung anbieten.

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Anderes geht aber auch weit über kleinere Besorgungen hinaus. "Wir konnten über die Gruppe eine Spende von Laptops für ärmere Kinder vermitteln, damit auch sie zu Hause am Schulunterricht teilnehmen können", erzählt Lindberg. Ein weiteres Beispiel: Der Betreiber des Waschsalons "Laundrette" mit angeschlossener Bar im Hamburger Stadtteil Ottensen bietet Pflegekräften, Ärzten oder Polizisten an, ihre Wäsche kostenlos zu waschen, um ihnen das Leben in Zeiten der Krise zu erleichtern.
Das unkomplizierte Konzept der "Coronahilfe Hamburg" macht Schule. In mehreren Städten (zum Beispiel in Berlin, Mühlacker und im Kreis Schleswig-Flensburg) gibt es inzwischen Ableger, die von den Hamburger Initiatoren unterstützt werden – mit dem Erstellen von Logos oder mit Tipps zur Moderation der Gruppen.
Zwar hoffen Kommunikationsberaterin Lindberg und ihre Verbündeten, bald wieder Vollzeit in ihren eigentlichen Berufen arbeiten zu können und freuen sich über Aufträge. Solange die Krise anhält, wollen sie sich aber weiter für ihre "Coronahilfe Hamburg" einsetzen. "Es sind schwere Zeiten für alle. Es ist großartig wie die gelebte Solidarität in der Gruppe zu sehen. Dafür sind wir dankbar."
"Nebenan.de"
"Wir beobachten eine Welle der Solidarität", teilen die Macher von "Nebenan.de" mit. Die Internetplattform setzte schon vor der Ausbreitung von Sars-CoV-2 voll auf das Konzept der Nachbarschaftshilfe. Registrierte Nutzer können auf dem Portal zum Beispiel Veranstaltungen in der Nachbarschaft bewerben, die Menschen in der Umgebung um Rat und Hilfe bitten oder eigene Angebote einstellen. Mal geht es um das Verleihen einer Bohrmaschine, mal um Schülernachhilfe, mal um die Organisation eines Straßenfestes.
Seit rund drei Wochen geht es aber zunehmend um eines: das Coronavirus. "Nachbarn aus ganz Deutschland bieten über 'Nebenan.de' ihre Hilfe an – insbesondere für Risikogruppen, Eltern ohne Kinderbetreuung sowie für lokale Einzelhändler, Dienstleister und Kunstschaffende, deren Existenz von den Schließungen massiv bedroht ist", stellt Unternehmenssprecherin Hannah Kappes fest und nennt konkrete Beispiel. "Viele Nachbarn bieten zum Beispiel an, für jemanden zum Supermarkt oder zur Apotheke zu gehen oder mit dem Hund Gassi zu gehen. Es gibt auch herzerwärmende Beiträge, zum Beispiel gab es am Wochenende in Berlin den Vorschlag, für ältere Menschen Muffins zu backen, um sie in der Zeit der Isolation ein bisschen aufzumuntern."
Die Zahl der Neuanmeldungen auf dem Portal ist nach Angaben der Betreiber sprunghaft angestiegen. Allein an dem Wochenende, an dem die Regierungschefs von Bund und Ländern die Beschränkungen im Alltag beschlossen haben, habe es eine fünfmal so hohe Registrierungszahl wie üblich gegeben; die Aktivität auf der Plattform habe um 30 Prozent zugenommen.
Die Macher wollen "Nebenan.de" weiter ausbauen, auch in die analoge Welt hinein. Vor allem mit Blick auf ältere und weniger internetaffine Nutzer bieten sie Hausfluraushänge an und planen die Einrichtung einer Hotline. Der derzeitige Zuspruch freut das Berliner Unternehmen und scheint dem Konzept recht zu geben. "Denn genau für diese Art der Hilfsbereitschaft und Solidarität haben wir 'Nebenan.de' entwickelt. In Krisenzeiten zeigt sich, wie essentiell eine gut vernetzte und hilfsbereite Nachbarschaft ist."
"Altona bringt's"
Die Nachbarschaft, das sind nicht nur die nervigen Kinder von den Schmidts im Stockwerk drüber und der verschrobene Herr Meier aus dem Erdgeschoss, der nie grüßt, sondern auch zahlreiche große und kleine Geschäfte. Doch ob Friseur, Buchhändler oder der Italiener an der Ecke – viele der lieb gewonnenen Händler müssen zurzeit geschlossen bleiben. Hier setzen Portale wie "Altona bringt's" an, nach dem Motto: Wenn der Kunde nicht in den Laden kommen kann, kommt der Laden zum Kunden – und zwar nicht die Big Player aus Übersee, sondern lokale Händler und Dienstleister. "Wir lassen gemeinsam unser Quartier und seinen Markt virtuell aufleben", erklären etwa die Initiatoren aus dem Hamburger Stadtteil. Hinter dem Projekt stehen die Interessengemeinschaft einer großen Einkaufsstraße, der Stadtteil-Guide "Unser Altona", ein Einkaufszentrum, aber auch die örtliche Ikea-Filiale.

Unternehmen können sich auf "Altona bringt's" eintragen, ihr Angebot beschrieben und Liefer- oder Abholinformationen hinterlegen. Kunden können die Angebote dann filtern und sich Elektrogeräte, Heimtextilien, Mode oder Obst und Gemüse nach Hause liefern lassen oder im Geschäft abholen. Bisher sind rund 170 Betriebe aus dem Stadtteil bei dem Projekt dabei, die Macher sind aber für weitere teilnehmende Geschäftsleute offen. Vergleichbare Portale gibt es in vielen kleineren und größeren deutschen Städten, zum Beispiel im oberbayerischen Pfaffenhofen, in Potsdam oder in Mainz. So stärkt die Nachbarschaftshilfe auch die lokale Wirtschaft, damit die Vielfalt im Quartier auch nach der Corona-Krise erhalten bleibt.
Wenn Sie weitere Beispiele von Solidarität in Zeiten der Coronavirus-Krise kennen, senden Sie uns gerne eine E-Mail mit einer kurzen Beschreibung des Projekts samt Ort und Ansprechpartner an coronahilfe@stern.de.