Im niedersächsischen Kurort Bad Salzdetfurth kommen in diesen Tagen Betroffene und Wissenschaftler zum Bundeskongress "Aufarbeitung Kinderverschickung" zusammen. Millionen Kinder wurden zwischen 1945 und 1980 ohne ihre Eltern zur Kur an die See oder ins Gebirge geschickt. Viele von ihnen erlebten seelische und körperliche Misshandlungen. Eine Betroffene hat ihre Geschichte mit dem stern geteilt. Wir veröffentlichen sie an dieser Stelle erneut.
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Ein Mädchen, fünf Jahre nur, steht mit hochgezogenen Schultern zwischen gleichaltrigen Mädchen. Es trägt einen Kapuzenmantel und hält sich die Hände vor den Bauch. Sie sind seit Wochen auf der Insel, per Zug und Boot gekommen. Manche haben Bauchweh, andere Husten; das Mädchen hat beides, sagen die Schwestern mit den Hauben. Weiße Hauben, unter dem Kinn von Schleifen gehalten, dazu tragen die Schwestern schwarze Kleider. Wie Elstern sehen sie aus. Ob sie die Hauben zum Schlafen abnehmen? Ob sie sich selbst mit ebenso harten Bürstenstrichen kämmen wie die Mädchen? Das Mädchen will nicht angefasst werden von ihren Händen, es will nicht, dass die Elstern von Schuld reden und von Strafe und dass es mancher recht geschehe. Morgens sieht es, wie ein anderes Mädchen im Waschraum gebürstet wird, und die Bürste geht nicht durch das Haar, und die Schwestern werden ärgerlich und bürsten noch härter. Es sieht, wie das andere Mädchen stumm auf dem Schemel weint. Es mag das Mädchen gern, oh, wie gern es das Mädchen mag!
Heute ist das Mädchen, das sich hier erinnert, eine Frau, 64 Jahre alt. Wir wollen sie Anna nennen. Sie sitzt in einem Zug, der durch die friesische Marsch rattert. Sie trägt einen roten Pullover und Jeans. Graue Locken in einem Gesicht, das alt und jung zugleich aussieht. Sie ist nicht mehr das Mädchen und ist es doch noch. Begrüßungen klingen bei ihr wie eine Frage, leise und scheu: Guten Tag? Anna, die in Paris gelebt hat und gern schreibt und viele Sprachen spricht. Sie hat als Pädagogin Kinder mit abweichendem Verhalten begutachtet und gefördert, hat ein reiches Leben gelebt, hat etwas aus sich gemacht.
Aber sie weiß immer noch nicht, was mit ihr gemacht wurde auf der Insel. Sie wird bis heute bedrängt von Erinnerungen, die sich nicht steuern lassen. Fetzen sind es, Funken in der Nacht. Kreise, die ein Stein zieht, den man ins Wasser geworfen hat. Sie kriegt sie nicht zu einem Bild zusammengelegt. Wieso die Ohnmacht in ihr und das Gefühl, sich selbst abhandenzukommen? Woher diese Dunkelheit, die Panikattacken, warum immerzu gehorsam, klein? Die Vorfälle von damals sind lange her, wenn man Zeit in Jahren misst, aber kurz, wenn man sie misst an dem Schrecken, den das Vergangene noch ausübt.