Voluntourismus Warum die Vermischung von Freiwilligenarbeit und Urlaub problematisch ist

Voluntourismus verbindet das Reisen mit dem freiwilligen Arbeiten und ist deshalb eine beliebte Reiseform bei jungen Menschen
Voluntourismus verbindet das Reisen mit freiwilligem Arbeiten und ist deshalb bei jungen Menschen beliebt
© Mikel Taboada / Picture Alliance
Voluntourismus ermöglicht es Menschen, ins Ausland zu gehen, um dort freiwillig zu arbeiten und gleichzeitig in diesen Ländern Urlaub zu machen. Das scheint auf den ersten Blick wie eine gute Sache, hat aber auch eine Schattenseite.  

Als Lidia Morante Maldonado 2019 ihr Fachabitur mit Schwerpunkt Gesundheit und Soziales in der Tasche hatte, wollte sie vor allem eines: anderen Menschen helfen. "Ich habe schon in der Schule ehrenamtlich gearbeitet, sei es im Sportverein oder in der Hausaufgabenbetreuung für geflüchtete Kinder", sagt die heute 20-Jährige dem stern. Doch sie wollte nicht mehr nur in Deutschland helfen, sondern gleichzeitig etwas von der Welt sehen. Auf Umwegen landete die Düsseldorferin zunächst bei einer Reiseagentur und schließlich als sogenannte Voluntouristin in Ghana. Voluntourismus ist ein Kunstwort aus dem englischen Begriff Volunteer (deutsch: Freiwillige:r) und Tourismus. 

Etliche Organisationen und Unternehmen werben gezielt mit Projekten, in denen man im Ausland freiwillig helfen kann. Mit einer Google-Suche und ein paar einfachen Klicks wird man zum Volunteer und hat die Möglichkeit, die freiwillige Arbeit mit einem Urlaub in den jeweiligen Ländern zu verbinden. Billig ist das allerdings nicht, denn Freiwilligenarbeit in dieser Form ist teuer. Bei einem nach eigenen Angaben weltweit führenden Reiseveranstalter für entsprechende Auslandsaufenthalte kostet eine Reise nach Nepal, bei der man vier Wochen aktiv in einer Schule arbeitet, 1430 Euro – ohne Hin- und Rückflug. Für die Flüge sollte man, so heißt es auf der Unternehmenswebsite, etwa 1200 Euro zusätzlich einplanen.   

Eine Anfrage des stern an die Agentur blieb unbeantwortet. Das Unternehmen beschreibt Freiwilligenarbeit auf seiner Seite aber als Win-win-Situation. Diese sei – auch wenn nur kurz – grundsätzlich sinnvoll. Die Projekte vor Ort würden von der Arbeit und dem gezahlten Geld profitieren. Voluntourist:innen würden als Botschafter ihrer Heimatländer auftreten und helfen, wo es sonst womöglich niemand täte. Die Wirtschaft vor Ort werde auch noch angekurbelt, da die Reisenden dort Geld ausgeben. Und auch die Einwohner der Zielländer könnten durch die Freiwilligen eine andere Kultur kennenlernen, ohne selbst zu reisen, heißt es.  

Voluntourismus: fehlgeleitete Entwicklungshilfe?

Die Zielgruppe der Unternehmen: Menschen aus dem globalen Norden, die ihre Privilegien nutzen möchten, um zu helfen. Sie haben vielleicht gerade ihr Abitur gemacht, wollen endlich das Elternhaus verlassen, die große weite Welt sehen und dabei gleichzeitig noch etwas Gutes tun. Mit einem Monat Voluntourismus in Ländern wie Südafrika, Nepal oder auch dem beliebten Reiseziel Bali können sie gleichzeitig Urlaub machen, ihren Lebenslauf optimieren und helfen, wo es nötig scheint.  

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Lidia Morante Maldonado saß kaum vier Wochen nach ihrer Anmeldung über eine Reiseagentur im Flieger nach Ghana. Heute denkt sie: "Dass so was so schnell geht, spricht eigentlich dafür, dass es nicht wirklich gut sein kann." Vor Ort war sie dann mit anderen Freiwilligen aus der ganzen Welt zusammen. Sie lebte direkt neben einem Kinderheim, in dem sie als Betreuerin gearbeitet hat. Doch schnell fiel ihr auf, dass das Helfen für viele der Freiwilligen nicht die höchste Priorität hatte. Viele der Volunteers vor Ort machten oft Party und stellten den Urlaubsaspekt vor ihre Arbeit. "Niemanden hat es interessiert, ob du bei den Projekten auftauchst oder eben nicht." Denn diese Hilfsprojekte seien viel mehr für die Freiwilligen ausgelegt als für die Menschen vor Ort.  

Der "White Savior Complex" 

Es gibt einen Begriff für das Bedürfnis von Personen aus der westlichen Welt, im Ausland direkt zu helfen, ohne dabei Vorerfahrung mitzubringen: der "White Savior Complex". Dieser Begriff beschreibt laut dem gemeinnützigen Verein Brückenwind, der sich auf Freiwilligenarbeit spezialisiert hat, das Phänomen, "nach dem sich weiße Menschen aus dem globalen Norden dazu berufen fühlen, in Ländern des globalen Südens Entwicklungs-, Aufklärungs- oder Hilfsarbeit zu leisten", also quasi als Retter aufzutreten. 

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Das Problem in den Augen der Kritiker: Junge Menschen reisen in Entwicklungsländer, um dort ohne jegliche Berufserfahrung oder Qualifikation Berufe auszuüben, für die sie in Deutschland eine Ausbildung brauchten, etwa als Lehrer:innen, Bauarbeiter:innen oder Pflegekräfte. Sie glauben, so lautet die Kritik, durch ihre geografische oder ethnische Herkunft automatisch einen Bildungs- oder Kompetenzvorsprung zu besitzen.  

Die Folge sei, dass das problematische Bild einer unterlegenen Gesellschaft des globalen Südens reproduziert werde. Brückenwind erklärt diese "anmaßende Überschätzung der eigenen Rolle" mit alten rassistischen und durch den Kolonialismus geprägten Weltbildern, die bis heute in vielen Köpfen verankert seien. Hinzu kommt: Die Arbeiten, die von ungelernten, aber kostenlosen Voluntourist:innen übernommen werden, wären andernfalls womöglich von qualifizierten Einheimischen ausgeführt worden.

Kritiker mahnen Folgen für Kinder an

Eine der beliebtesten Seiten des Voluntourismus ist die Arbeit mit Kindern. Es ist möglich, ohne jegliche Erfahrung oder Ausbildung in den jeweiligen Bereichen mit Kindern zu arbeiten. Ganz egal, ob als Lehrkräfte in Schulen oder als Betreuer:innen in Waisenhäusern – wer das nötige Geld bezahlt, kann aktiv helfen.  

Der Informationsdienst "Tourism Watch", der zum Hilfswerk "Brot für die Welt" gehört, spricht von negativen psychologischen Auswirkungen auf die Kinder. Denn sie werden immer wieder mit neuen Bezugspersonen konfrontiert. Diese "weißen Retter" kommen in ihr Leben, bringen meist Geschenke mit, spielen mit ihnen und werden in kurzer Zeit automatisch zu Bezugspersonen – um nach zwei Wochen, nach vier Wochen oder auch nach drei Monaten wieder aus ihrem Leben zu verschwinden. Die Kinder bleiben zurück und müssen mit den nächsten Personen dasselbe durchmachen. Das führe, so mahnt "Tourism Watch", zu Traumata und Bindungsstörungen. 

Lidia Morante Maldonado hat in Ghana Kinder unterrichtet und schnell gemerkt, dass dort ein strukturelles Problem herrscht. "Die Kinder kannten einen nicht und sind trotzdem in deine Arme gesprungen. Das ist kein normales Verhalten von einem Kind und zeigt das Problem auf", erklärt sie gegenüber dem stern und sagt selbst, sie habe schnell gemerkt, dass sich das vermeintliche "Helfen" nicht wie Hilfe angefühlt habe.    

In dem Heim, in dem sie als freiwillige Helferin gearbeitet hat, hätten die Eltern die Kinder immer sonntags besucht. "Danach haben die Kinder so geweint", sagt sie. "Oft werden solche Heime eröffnet, nur damit die weißen Menschen kommen und helfen, doch keiner fragt, wieso die Kinder im Heim sind. Ist es wirklich, weil sie bei der eigenen Familie gefährdet sind, oder ist das Heim extra dafür gemacht, dass wir kommen?" Dass die Eltern die Kinder regelmäßig besuchen können, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit.   

Und auch die Referatsleiterin für Wirtschaft und Nachhaltigkeit bei "Brot für die Welt", Antje Monshausen, betrachtet den Waisenhaus-Voluntourismus kritisch. Gegenüber dem stern sagt sie, dass der Besuch von Gästen in Waisenhäusern ein lukratives Geschäft sei. "Die Nachfrage der Reisenden (darunter auch welche, die Freiwilligendienste vor Ort leisten wollen) führt dazu, dass Kindern das Recht vorenthalten wird, bei ihren Eltern aufzuwachsen." Sie spricht in diesem Zusammenhang von Menschenhändler:innen, die den Eltern eine bessere Zukunft für ihre Kinder versprechen und diese dann in schlecht geführte Waisenhäuser stecken. Denn "je ärmer die Kinder aussehen, desto besser für das Geschäft".

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2014 warnte das Kinderhilfswerk Unicef vor Waisenhaus-Voluntourismus. Unicef spricht von offiziellen Schätzungen, laut denen etwa 80 Prozent der Kinder in Kambodscha, die in Waisenhäusern leben, eigentlich gar keine Waisen sind, sondern mindestens einen lebenden Elternteil haben. Außerdem konnte das Kinderhilfswerk gemeinsam mit dem Sozialministerium des Landes beobachten, dass sich die Zahl der Waisenhaus-Einrichtungen zwischen 2015 und 2017 nahezu verdoppelt hat. Und auch wenn die Verhältnisse in dem Land nicht optimal sind und viel Armut herrscht, lässt sich dieser derartige Anstieg vermeintlicher Waisen weder durch Krieg noch durch Krankheiten erklären. Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt dazu, dass die Mehrzahl dieser Waisenhäuser in der Hauptstadt Phnom Penh und in der Provinz Siem Reap liegen, also genau an den Orten, die von Tourist:innen besucht werden.  

Antje Monshausen bemängelt in diesem Zusammenhang auch die fehlende Aufsicht in solchen Waisenhäusern. Denn das berge das Risiko, "dass Reisende unbemerkt mit Kindern die Waisenhäuser verlassen und diese Kinder dadurch Opfer sexualisierter Gewalt und Ausbeutung werden". Die Arbeitsgemeinschaft ECPAT Deutschland e.V., die sich auf den Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch spezialisiert hat, bestätigt diese Befürchtung und erklärt, dass "die ungenügende Betreuung der Voluntourist:innen Räume und Möglichkeiten für grenzüberschreitende Situationen, wie zum Beispiel sexuelle Übergriffe an den Kindern eröffnet".

Was hilft wirklich?   

Antje Monshausen erklärt gegenüber dem stern, was getan werden muss, um den Kindermissbrauch zu stoppen. "Vor Ort müssen die Behörden Waisenhäuser besser kontrollieren", sagt sie und betont, dass Reiseveranstalter keine Besuche in vermeintlichen Waisenhäusern anbieten sollten. Gleichzeitig ist Aufklärungsarbeit in diesem Bereich wichtig, deshalb fordert Monshausen, dass die jeweiligen Länderseiten des Auswärtigen Amtes davor warnen sollten. "Und auch in der Bildungsarbeit sollte das Thema Tourismus und Kinder- bzw. Menschenrechte einen größeren Stellenwert einnehmen", fügt sie als Leiterin der Arbeitsstelle "Tourism Watch" hinzu.  

Voluntourismus: Lidia Morante Maldonado und ihr Geschäftspartner
Lidia Morante Maldonado und ihr Geschäftspartner

Lidia Morante Maldonado war nach ihrem Aufenthalt in Ghana der Auffassung, dass sich etwas ändern muss. "Viele denken, es ist mit drei Wochen helfen getan – nein, es ist wichtig, eine stabile Hilfe für mehrere Jahre aufzubauen", sagt sie. Im Grunde gehe es darum, die Menschen vor Ort unabhängig vom globalen Norden zu machen. "Wir müssen die Menschen nicht bilden, damit sie unsere Bildung anwenden", erklärt sie. "Ich vertraue auf die Bildung vor Ort und gebe nur das Geld, um Ressourcen zu schaffen." Deshalb hat sie nun eine eigene Hilfsorganisation gegründet. Statt ungeschulte Abiturient:innen in Gebiete des globalen Südens zu schicken, schafft sie lieber Arbeitsplätze vor Ort. "So habe ich auch Perspektiven geschaffen für Menschen im Dorf. Wenn wir etwas bauen, zum Beispiel Brunnen, beauftrage ich Firmen. Damit schaffe ich wieder Aufträge, die von qualifizierten Fachkräften ausgeführt werden."