Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene in Deutschland gilt als armutsgefährdet: 2,88 Millionen Kinder und 1,55 Millionen junge Erwachsene (18 bis unter 25 Jahre). Heranwachsende sind stärker betroffen von relativer Armut als jede andere Altersgruppe in Deutschland. Gestiegen ist die Zahl der Kinder, die in Haushalten leben, die auf Bürgergeld angewiesen sind, weil auch Geflüchtete aus der Ukraine seit Juni 2022 Anspruch auf Unterstützung haben.
Die neuen Zahlen einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung überraschen nicht.
Denn Kinder- und Jugendarmut ist seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland – mit erheblichen Folgen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft. Die Steigerung der Kosten für Lebensmittel, Heizen und Energie verschärfen das Problem, und wahrscheinlich steigt der Anteil armutsgefährdeter Kinder und Jugendliche weiter – die Zahlen wurden 2021 erhoben, vor der Inflation.
Armut begrenzt und beschämt
Aufwachsen in Armut bedeutet nicht nur, weniger Geld für Klamotten zu haben. Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben: bei Bildung, Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe. Reiche Kinder sind in der vierten Klasse in Mathe und Deutsch ein Jahr weiter als arme Kinder. Bei gleicher Leistung werden arme Kinder schlechter benotet als reiche Mädchen und Jungen, sie erhalten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium und bleiben häufiger sitzen. Arme Kinder haben seltener einen eigenen Computer und ein Zimmer, in das sie sich zurückziehen können. Sie fahren seltener in den Urlaub, verzichten häufiger auf den Ausflug oder die Klassenfahrt, sie sind seltener Mitglied in einem Sportverein, sie werden häufiger ausgegrenzt und erleben mehr Gewalt. Der stern hat darüber mehrfach berichtet.
Kinderarmut kommt Deutschland teuer
Dabei wäre es sinnvoll, Kinderarmut zu bekämpfen – aus gesellschaftlichem Eigennutz. Damit diese jungen Menschen als Erwachsene, statt Sozialhilfe zu beziehen, Steuern zahlen und zur Rentenkasse beitragen. Bereits jetzt zeichnet sich der Fachkräftemangel ab, weil die Babyboomer in Rente gehen und die nachwachsende Generation sie schon rein zahlenmäßig nicht ersetzen kann. Hinzu kommt, dass junge Menschen, die in Armut aufwachsen, sich weniger der Gesellschaft zugehörig fühlen.
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) nannte Kinderarmut "eine Schande für ein so reiches Land wie Deutschland". Mit der Einführung einer Kindergrundsicherung will sie staatliche Leistungen bündeln und unbürokratischer zugänglich machen. Doch mit der Einführung ist frühestens 2025 zu rechnen.
Die Kindergrundsicherung steht zwar im Koalitionsvertrag der Ampel. Aber ob sie wirklich kommt, wer weiß das schon? FDP-Chef Christian Lindner, ebenfalls Unterzeichner des Vertrags, monierte bei der Vorstellung von Eckpunkten durch Familienministerin Paus vor wenigen Tage "formale Verfahrensfehler". Diese seien nicht mit dem Finanzministerium abgestimmt. Enthusiastisch klingt das nicht.
Ampelkoalition: kein grünes Licht für Kinder
Dabei hatte die FDP im Wahlkampf selbst noch ein Startchancen-Programm für Schulen in Brennpunkten angekündigt. "Jede zehnte Schule in Deutschland soll zur Startchancen-Schule werden, und zwar genau dort, wo die Herausforderungen am größten sind", sagte Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, FDP, im einem Interview mit der "Frankfurter Freien Presse" am 5. Dezember 2022.
Wo diese Schulen liegen könnten, das lässt sich in den Tabellen der Bertelsmann-Studie nachlesen: Während in Bremerhaven 36,3 Prozent aller Kinder als armutsgefährdet gelten, sind es in Bayreuth nur 4,3 Prozent. Auch dieses Fazit, dass sich die Zahlen von Bundesland zu Bundesland stark unterscheiden, ist für Experten nicht neu.
Wo bleibt der politische Wille?
An Erkenntnissen und Studien zum Thema Kinderarmut mangelt es nicht – aber sehr wohl am Willen der Politik und der Gesellschaft, etwas dagegen zu tun. Denn zwar hatte Finanzminister Lindner mit der angekündigten "Bildungsmilliarde" am Dreikönigstreffen vor zwei Wochen offenbar das Startchancen-Programm gemeint. Aber das Geld soll erst ab Schuljahr 2024/25 fließen. Und im Koalitionsvertrag war mal was von zwei Milliarden Euro jährlich zu lesen. Auch dazu wird es wohl noch viel Gezänk und Hin und Her geben.
Trotz anderslautender, vollmundiger Bekundungen haben Kinder und Jugendliche in Deutschland offenbar immer noch keine Lobby – und arme schon gar nicht.
"Im Moment ist das Geld so knapp, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Inflation frisst die Kinder auf"

Doch die Mädchen und Jungen, die jetzt in Armut heranwachsen, können nicht länger warten. Denn die Erfahrung des Mangels wird sie ihr Leben lang prägen. Sie haben ein Recht auf faire Bildungschancen, ein Recht darauf in einer stabilen Umgebung groß zu werden, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und medizinisch vernünftig versorgt zu werden.
Sie sollten gefragt werden, was sie tatsächlich brauchen. Die Neubestimmung der Leistungen muss sich an ihren tatsächlichen Bedürfnissen orientieren. 20 Euro Sofortzuschlag, der seit dem 1. Juli 2022 gezahlt wird, sind zu wenig. Und auch von 31 Euro mehr Kindergeld haben armutsgefährdete Kinder und Jugendliche nichts – weil die Erhöhung auf das Bürgergeld angerechnet wird.
Kinder und Jugendliche sollten selbst anspruchsberechtigt sein, wie beim Bafög. Auch das müsste dringend reformiert und erhöht werden. Und zwar schnell! Denn jeder Junge und jedes Mädchen sollte gleich viel wert sein.