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Gehirndoping am Arbeitsplatz "Der Leistungsdruck beherrscht unser Leben viel zu stark"

Eine Pille, um mehr zu leisten? Etliche Beschäftigte greifen dazu, zeigt ein Report. Ein Forscher erklärt, wie häufig das Phänomen ist - und was in unserer Arbeitswelt schief läuft.
Ein Interview von Lea Wolz

Herr Schleim, der DAK-Report warnt: Die Zahl der Arbeitnehmer, die schon einmal Hirndoping betrieben haben, sei stark gestiegen. Drei Millionen sollen schon einmal verschreibungspflichtige Pillen geschluckt haben. Sind wir auf dem Weg in die gedopte Gesellschaft?
Es gibt Leute, die damit experimentieren, aber ich sehe keinen dramatischen Anstieg. Der Report spricht von etwa zwei Prozent regelmäßigen Nutzern. Bezogen auf die Erwerbstätigen sind das etliche Menschen, doch Gehirndoping ist kein Massenphänomen. Auch unter Studierenden dürfte die Zahl im einstelligen Prozentbereich sein.

Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass sich Gehirndoping immer weiter verbreitet?


Ich sehe das nicht. Wenn die Zahlen steigen, dann auf geringem Niveau. Wie zurückhaltend die Deutschen bei dem Thema sind, zeigt auch eine andere Zahl aus dem Report: Mehr als 80 Prozent der Befragten lehnen Hirndoping generell ab. Zehn Prozent erwägen es, sind aber aufgrund der Risiken zurückhaltend. Etwa sieben Prozent haben es schon einmal ausprobiert, zwei Prozent nutzen es regelmäßig. Die große Mehrheit der Erwerbstätigen nimmt keine leistungssteigernden Medikamente - und hat es auch nicht vor.

Gefährliche Neurostimulanzien

Millionen Menschen in Deutschland dopen sich am Arbeitsplatz mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Dazu stellt die Krankenkasse DAK-Gesundheit eine neue Studie vor. Zu Neuroenhancement-Mitteln zählen Medikamente zur Behandlung von Demenz, Depressionen oder Aufmerksamkeits- und Schlafstörungen. Alle Präparate können massive Nebenwirkungen haben. Dazu gehören Herz-Rhythmus-Störungen, Unruhe und Schlafstörungen. Einige können auch den Wunsch nach Selbsttötung hervorrufen. Mehr zu der Studie und zu den einzelnen Medikamenten, die zur Leistungssteigerung verwendet werden, und den Nebenwirkungen finden Sie hier.

Wer nimmt solche Mittel?
Überraschenderweise sind es seltener die besser Ausgebildeten. Der Report zeigt: Es sind vor allem schlechter ausgebildete Arbeiter und Angestellte mit einfacher Tätigkeit. Wer geringer qualifiziert ist, greift eher zu leistungssteigernden Medikamenten. Das gerne angeführte Klischee einer intellektuellen Avantgarde, die solche Mittel nutzt, um geistig noch mehr zu leisten, trifft auf dem Arbeitsmarkt nicht zu.

Was bedeutet das?


Es zeigt, dass Gehirndoping oft eine Reaktion auf die Arbeitsbedingungen ist. Ein sicherer Arbeitsplatz verringert das Risiko. Die Angst, nicht mehr mithalten zu können, lässt Menschen dagegen eher zu solchen Medikamenten greifen. Neuroenhancement scheint vor allem ein Mittel zur Stressbewältigung zu sein. Gehirndoping ist eine Reaktion auf den zunehmenden Leistungsdruck in unserer Gesellschaft. Wir müssen daher diese ganze Debatte anders führen.

Wie?


Auch der DAK-Report spricht von Medikamentenmissbrauch und unterscheidet zwischen Menschen, die ohne Grund zu solchen Mittel greifen - und solchen, die sie wegen einer psychischen Störung nehmen. Sobald ein Arzt eine Diagnose stellt und ein Rezept schreibt, ist es kein Gehirndoping mehr. Das halte ich für falsch.

Warum?


Die Grenzen vieler psychischen Störungen - Depressionen etwa oder Aufmerksamkeitsstörungen - sind fließend. Es gibt einen großen Graubereich. Die Produktion von Stimulanzien hat in den vergangenen Jahren explosionsartig zugenommen. Von 1993 bis 2013 stieg etwa in Deutschland die Abgabe von Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin, an Apotheken um das Zwanzigfache. Allein medizinisch ist das nicht erklärbar, denn das Mittel gibt es seit den 1940ern. Ich denke, dass viele solche Medikamente nehmen, um durchhalten zu können. Das passiert ganz offen, wenn Menschen zugeben: Ich bin nicht krank, ich will besser funktionieren. Es passiert aber auch verdeckt: über eine psychiatrische Diagnose.

Was fordern Sie?
Es ist zwar gut, wenn wir Menschen über die Gefahren von leistungssteigernden Medikamenten aufklären. Und wenn wir ihnen Wege aufzeigen, wie Sie ohne solche Mittel mit dem Stress klarkommen - etwa durch Sport oder Yoga. Wir müssen aber eine Debatte darüber führen, ob wir nur auf individueller Ebene mit dem Leistungsdruck umgehen wollen, oder ob wir nicht eher die gesamtgesellschaftliche Ebene in den Blick nehmen müssen.

Was hieße das?


Sollten wir uns nicht zuerst fragen: Wo entsteht der Stress? Wie kann ich das Arbeitsumfeld verändern? Und die Umwelt so gestalten, dass die Menschen in ihr gesund bleiben? Und nicht: Wie hält das Individuum den Stress besser aus? Ich plädiere für diesen Perspektivwechsel. Der Leistungsdruck beherrscht unser Leben viel zu stark. Es ist doch absurd, wenn Menschen Medikamente schlucken und sich Nebenwirkungen aussetzen, um diesem standhalten zu können.

Sie sprechen sich also gegen Gehirndoping aus?


Vor etlichen Jahren dachte ich, dass diese Mittel vielleicht gar nicht so schlecht sind. Als ich aber das erste Mal Studien dazu gelesen habe, war mir völlig klar, dass es sich um einen Hype handelt. Was machbar ist, wird radikal übertrieben - etwa um Forschungsgelder einzutreiben. Hirnforscher, Pharmakologen und Neurowissenschaftler haben hier mehr versprochen, als sie halten können.

Inwiefern?


So traurig das auch für Patienten ist: Es ist völlig ernüchternd, wie wenig in diesem Bereich in den vergangenen Jahren erreicht wurde. Viele der großen internationalen Pharmafirmen, die Milliarden mit Antidepressiva und Stimulanzien verdienen, haben mittlerweile ihre Forschungsabteilungen in dem Bereich geschlossen. Sie sagen: Wir haben so viel versucht, hatten etliche vielversprechende neue Ansätze. Doch ein gutes Alzheimermedikament ließ sich nicht entwickeln. Bessere Mittel gegen Schizophrenie gibt es nicht. Und die Antidepressiva, die wir heute haben, sind vor allem ärmer an Nebenwirkungen, jedoch nicht wirkungsvoller.

Was hat das mit Gehirndoping zu tun?


Wenn wir über psychiatrische Störungen reden, dann sind wenigstens die Symptome klar. Wir wissen, was wir behandeln wollen. Beim Gehirndoping ist es völlig schwammig, was mit den Mitteln erreicht werden soll. Ließe sich ein gutes Medikament daran identifizieren, dass wir aufmerksamer sind? Dass wir länger lernen können? Laborversuche, mit denen sich so etwas ermitteln lässt, sind äußerst rudimentär - und sie haben nichts mit unserer Berufswelt zu tun. Die Forschung hat uns keinen Schritt auf dem Weg zur alltagstauglichen Neuropille weitergebracht.

Aber bestimmte Stimulanzien wie Methylphenidat werden je bereits von manchen Menschen genommen. Dass sie gefährliche Nebenwirkungen haben, ist belegt. Ist es aber Zufall, wenn sie die Leistung steigern?
Ich will nicht ausschließen, dass mancher davon profitiert. Der Placeboeffekt dürfte aber zum einen sehr groß sein. Wer mehr Energie hat und sich besser fühlt, traut sich auch mehr zu. Zum anderen: Nur weil ich unter Methylphenidat länger lernen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich mich in der Prüfungssituation daran erinnere. Unser Gedächtnis muss sich auch konsolidieren, es braucht Ruhepausen.

Ist es nicht auch ungerecht, seine Leistung durch Pillen zu verbessern?


Es ist nicht nur unfair, es ist auch unnötig. Wir haben genügend Potenzial, das wir ganz natürlich weiterentwickeln können - ohne Medikamente zu schlucken, die unser Gehirn nachhaltig schädigen können. Gehirndoping setzt auch diejenigen unter Druck, die es nicht tun. Eine Art Wettrüsten entsteht, bei dem wir alle nur verlieren können. Denn wenn alle diese Mittel nehmen, verschwindet der Vorteil. Sinnvoller wäre es zu erkennen, dass der Wettbewerb in Bereichen zu stark geworden ist, in die er nicht gehört - etwa im Gesundheitssystem und im Bildungssystem. Diesen wieder in ein menschliches Maß zu bringen, wäre genauso notwendig wie eine Diskussion darüber, wo Wettbewerb nützlich ist und wo er die Menschen nur kaputt macht. Dann geht das Verlangen nach Gehirndoping von selbst zurück.

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