Die Schulen wieder schließen? Das kommt für die Ampel-Koalition nicht in Frage. Und auch Mediziner sprechen sich gegen den Lockdown für Kinder und Jugendliche aus. "Ich plädiere dringend dafür, den Schulbetrieb während der gesamten vierten Welle aufrechtzuerhalten", sagte etwa der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Jörg Dötsch, der "Rheinischen Post".
Bleiben die Schulen geschlossen, belastet das die Kinder nicht nur psychisch. Mehrere Studien zu dem Thema belegen, dass immer mehr Kinder unter Essstörungen und Übergewicht leiden. Auf der anderen Seite beklagen Experten erhebliche Bildungslücken. "Deutschlandweit verlassen noch immer zu viele Kinder die Grundschule, ohne ausreichend lesen und schreiben zu können", sagte Felicitas Thiel, Vorsitzende des wissenschaftlichen Beratergremiums der Kultusministerkonferenz (KMK) bei einer Pressekonferenz. Zudem wächst die Ungleichheit: Wer Eltern hat, die bei den Schulaufgaben helfen können, hat Glück. Viele andere werden dagegen abgehängt.
Vorgezogene Weihnachtsferien statt Schulschließung?
Für die Schulschließungen sprachen bisher die eklatant hohen Infektionszahlen unter den 5- bis 19-Jährigen. In seinem jüngsten Wochenbericht vermeldete das Robert Koch-Institut (RKI) eine Inzidenz von 951 bei den 5- bis 9-Jährigen. Noch höher war sie bei den 10- bis 14-Jährigen mit 1020. Und bei den 15- bis 19-Jährigen vermeldete das RKI 623 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Aussagen, in denen Schulen zum "sicheren Ort" deklariert werden, wie Bildungsministerin Simone Oldenburg (Linke) aus Mecklenburg-Vorpommern zuletzt twitterte, irritieren angesichts dieser Zahlen.
Aber wie sollte man das Problem in den Griff bekommen, ohne die Schulen gänzlich zu schließen?
Vorgezogene Weihnachtsferien schienen für einige eine sinnvolle Lösung zu sein. Es sei richtig, die Ferien vor allem in jenen Bundesländern mit hoher Inzidenz vorzuziehen, sagte etwa Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) im ZDF. Die Entscheidung darüber obliegt allerdings den Ländern – durchgesetzt wurde diese Reglung bis jetzt nur in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Dort beginnen die Weihnachtsferien schon am 17. Dezember. Niedersachsen hob dagegen die Präsenzpflicht ab dem 20. Dezember auf.
Die Familie – oder: die Pandemietreiber
Am Mittwoch präsentierte das Kultusministerium (KMK) schließlich eine Studie, die all diese Bedenken obsolet macht – und Bildungsministerin Oldenburg Recht gibt. Die Untersuchung der Universität Köln und des Helmholtz-Instituts für Infektionsforschung zeigt, dass sich Kinder seltener in den Schulen infizieren, als angenommen. Eigentlicher Pandemietreiber ist demnach das familiäre Umfeld. Die Schulen trügen eher dazu bei, die Infektionen zu kontrollieren, sagte Dötsch auf der Pressekonferenz.
Für die Studie hatten die Forscher zunächst sämtliche Veröffentlichungen zum Infektionsgeschehen an den Schulen ausgewertet. Danach wurden regelmäßige Berichte über Ansteckungen in den Schulen erfasst. Dafür meldeten die Länder Daten aus den Landkreisen. Zum Schluss untersuchten die Forscher die Übertragungswege vom März 2020 bis August 2021.
Laut den Ergebnissen überstieg das Infektionsrisiko der Schüler selten das der Gesamtbevölkerung. Während der dritten Welle sei das Risiko sogar noch einmal gesunken. Auch das Gesundheitsrisiko der Lehrkräfte sei zurückgegangen – dank der neuen Impfmöglichkeiten. Gleichzeitig betonen die Forscher, dass sich das Infektionsgeschehen unter den Schülern regional stark unterscheidet.
Insgesamt sind die Corona-Zahlen an den Schulen zuletzt aber gesunken, wie die KMK am Mittwoch mitteilte. Demnach waren in der vergangenen Woche 96.000 Corona-Infektionen bei Schülerinnen und Schülern bekannt (Vorwoche 103.000). Zurückgegangen auf 131.000 ist auch die Zahl der Schüler, die darüber hinaus in Quarantäne waren (Vorwoche 150.000).
Dagegen sei das Infektionsrisiko in privaten Haushalten ungleich höher. Die Wahrscheinlichkeit nach einem Kontakt mit einer infizierten Person selbst an Corona zu erkranken, liegt auf dem Schulgelände bei vier Prozent. Erkrankt jemand zuhause, liegt die Wahrscheinlichkeit für weitere Ansteckungen bei 15 Prozent. Laut dem RKI-Wochenbericht wurden zuletzt 5223 Fälle dem Bereich "Privater Haushalt" und 1614 dem Bereich "Ausbildungsstätte" zugeordnet.
Ähnliches belegt eine Studie vom Imperial College London. Demnach sind Haushalte "weltweit der Ort der meisten Übertragungen". Das Ansteckungsrisiko in den heimischen vier Wänden wird darin für Ungeimpfte mit 38 Prozent und für Geimpfte mit 25 Prozent beziffert. Vollständige Geimpfte, die sich infizierten, ließen Corona im Vergleich zu Ungeimpften schneller hinter sich – wenngleich die maximale Viruslast ähnlich war. Eine dritte Booster-Impfung spielte bei der im Fachmagazin "The Lancet" veröffentlichen Untersuchung noch keine Rolle.
Geöffnete Schulen bedeuten langsame Durchseuchung
Den Epidemiologen Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung in Bremen, überzeugen diese Zahlen nicht. Er geht weiterhin von zunehmenden Ausbrüchen an Schulen aus. Bei den Zahlen des RKI handele es sich nur um Fälle, bei denen der Infektionsursprung ermittelt wurde. Die allermeisten blieben dagegen "ohne Angaben". Bei der Mehrheit ist also nicht klar, wo sie sich angesteckt haben könnten. Wenn es grundsätzlich Schulpräsenz geben solle, müsse klar sein, dass "eine Durchseuchung nach und nach stattfindet", erklärt er.
Dafür, dass auch die Schulen Infektionsherde sind, spricht für Zeeb, dass sich, im Gegensatz zur heimischen Familie, um die 25 Personen in einem Raum aufhalten. Die meisten von ihnen sind noch nicht geimpft. Ähnlich sieht das Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Er bestätigt "zahlreiche Ausbrüche an Schulen", bei denen Schüler ihre Nachbarn infiziert hätten. In den meisten Haushalten leben dagegen deutlich weniger Personen und die Impfquote ist durch die anwesenden Erwachsenen im Vergleich oft höher.
Dass die Schulen der sicherste Ort sein sollen, wie von Bildungsministerin Oldenburg behauptet, hält die die Aerosolforscherin Birgit Wehner vom Leibniz-Institut für Troposphärenforschung für fragwürdig. Sie weist aber darauf hin, dass zu Hause oft keinerlei Schutzmaßnahmen ergriffen würden – wie Masken oder Luftfilter – und auch nicht nach einem festen Schema gelüftet werde. Deshalb könnte die Ansteckungsgefahr in Haushalten durchaus höher sein.
Schutzmaßnahmen sind unerlässlich
Einig sind sich die Experten zumindest darin, dass das Infektionsgeschehen an den Schulen maßgeblich davon abhängt, wie konsequent die Corona-Schutzmaßnahmen umgesetzt werden. Zuletzt hatte ein Studie des Max-Planck-Instituts ergeben, dass FFP2-Masken zu 100 Prozent vor eine Infektion schützen.
Und der Aerosol-Rechner des Instituts bestätigt: Wenn 25 Personen (24 ungeimpft, die Lehrkraft geimpft) in einem 40 Quadratmeter großem Raum sitzen und eine Person mit der Delta-Variante des Coronavirus infiziert ist, liegt die Wahrscheinlichkeit, "dass sich mindestens ein Teilnehmer infiziert", laut Rechner bei hundert Prozent.
Um die Dynamik der Ausbreitung einzuschränken, könnten bei hohen Inzidenzen Schulschließungen über zwei Wochen oder – wie in manchen Bundesländern bereits beschlossen – vorgezogene Ferien hilfreich sein, sagt Zeeb. Wenn die Politik einen möglichst schnellen Rückgang der Infektionen für notwendig hält und weitere Maßnahmen beschließt, müssten letztlich auch Schulen geschlossen werden, erklärt auch Aerosolforscherin Wehner. Für sie sei das aber einer der finalen Schritte.
Quellen: Kultusministerkonferenz, Institut der Deutschen Wirtschaft, DPA