Herr Prof. Lahmann, sind Frühlingsgefühle real – oder nur ein Mythos?
Nein, es gibt sie wirklich. Wir Mediziner sprechen in solchen Fällen von Augenschein-Evidenz. Das bedeutet: Gewisse Dinge oder Beobachtungen sind real, ohne dass man sie wissenschaftlich begründen muss. Die meisten Menschen dürften das Phänomen der Frühlingsgefühle von sich selbst kennen: Sie fühlen sich im Frühjahr anders, besser.
Sie sind Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Was verstehen Sie unter Frühlingsgefühlen?
Es ist schwierig, eine allgemeine Definition abzugeben. Frühlingsgefühle sind ja keine Diagnose. Es handelt sich eher um ein alltagspsychologisches Phänomen, dem wissenschaftlich untersuchte Einzelphänomene zugrunde liegen. Grundsätzlich lässt sich aber sagen: Die Menschen sind im Frühjahr besser drauf, lockerer, fröhlicher. Die Motivation und die Energie nehmen zu. Und auch die Kontaktfreudigkeit steigt: Man ist geselliger, trifft sich häufiger in größeren Gruppen, geht vielleicht in den Biergarten oder spaziert um die Alster.
Kommen wir zurück zur Wissenschaft: Welche Gründe haben Frühlingsgefühle?
Experte im Interview
Prof. Dr. med. Claas Lahmann ist ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg
Ein bedeutender Faktor ist das Licht: Nach dem Winter werden die Tage länger, die Sonne steht höher am Himmel, die Lichtintensität steigt. Aus Untersuchungen wissen wir, dass sich Licht auf unseren Antrieb und unsere Stimmung auswirken kann. Ein Beispiel: Die dunklen Herbst- und Wintermonate schlagen manchen Menschen aufs Gemüt, und sie entwickeln eine Winterdepression. Dagegen kann eine Lichttherapie mit sehr hellem Kunstlicht helfen. Diese Lichttherapie bekommen wir im Frühjahr gewissermaßen auf natürliche Weise.
Also ist das Licht der entscheidende Faktor?
Ja, aber nicht allein. Die helleren, längeren Tage setzen eine Art "Teufelskreis" in Gang – im positiven Sinne. Durch das Licht haben die meisten Menschen etwas mehr Grundenergie. Das zusammen mit den steigenden Temperaturen zieht die Menschen wieder mehr ins Freie. Man verlässt die winterliche Höhle, geht in den Park oder an den See. Auch die Bewegung an sich hat einen stimmungsstabilisierenden beziehungsweise -aufhellenden Effekt. Und was passiert, wenn wir im Freien unterwegs sind und nicht mehr in der Wohnung sitzen? Wir treffen unweigerlich Menschen und pflegen unsere sozialen Kontakte. Auch das tut uns Menschen gut.
Stimmt das Klischee, dass wir uns im Frühling leichter verlieben?
In gewisser Weise schon - weil die Gegebenheiten günstiger sind. Wir sind explorativer, neugieriger und besser gelaunt. Das alles sind pro-soziale Tendenzen. Außerdem kleiden wir uns im Frühjahr anders als im Winter. Die Anziehsachen sind luftiger und farbenfroher. Das bedeutet: Wir sehen mehr voneinander als im Skianzug. In der Summe führt das dazu, dass wir kontaktfreudiger sind und anders aufeinander zugehen.
Der Frühling ist eine Zeit des Veränderns – die Bäume werden grün, die Blumen blühen, es duftet an jeder Ecke. Welchen Einfluss hat die Umwelt auf unsere Gefühle?
Die aufblühende Natur ist einer der Einzelpunkte, die in der Summe das Frühlingsgefühl ausmachen. Natürliche Farben wirken sich günstig auf unsere Stimmung und sogar die körperliche Gesundheit aus. Wir wissen zum Beispiel, dass Patienten in Krankenhäusern schneller genesen, wenn sie in grüne Natur wie Bäume oder Wälder blicken. Grüne, farbenfrohe Umgebungen tun uns ganz besonders gut. An zweiter Stelle stehen blaue Umgebungen wie Meere oder Seen. Wobei blaue Umgebungen noch gesünder sind als städtische Umgebungen. Wir hier im Schwarzwald haben es aus wissenschaftlicher Sicht also besser als Menschen in Hamburg oder Berlin.
Ein Frühlingsgefühl ist etwas sehr Schönes – kann man das auch fördern?
Frühlingsgefühle entstehen nicht von allein, man muss der Natur auch eine Chance geben. Wichtig ist eine ausgewogene Lebensführung mit ausreichend Raum für die Freizeit, um die schönen Tage auch genießen zu können. Viele Menschen machen das intuitiv richtig: Sie gehen ins Freie und auf den Markt, kaufen sich vielleicht Zweige oder Tulpen und holen sich die Natur so auch in die eigene Wohnung. Das Frühjahr ist eine gute Zeit, um achtsam zu leben und Schönes zu genießen.
Im Frühjahr erleben einige Menschen aber auch das genaue Gegenteil von Frühlingsgefühlen: Sie fühlen sich müde und schlapp.
Ja, das stimmt. Die Frühjahrsmüdigkeit ist eine Art Kontrasterleben zu den Frühlingsgefühlen. Wir Menschen sind keine Maschinen, sondern sehr sensitive biologische Systeme. Das Phänomen der Frühjahrsmüdigkeit ist im Prinzip ein Anpassungsprozess: Die Tage werden länger, wir werden aktiver, schlafen vielleicht weniger. Der Körper muss sich auf die veränderte Umwelt erstmal einstellen. Die meisten Menschen bewegen sich im Winter weniger und jetzt auf einmal haben sie wieder die Verlockung rauszugehen. Da muss der Körper erst einmal in Schwung kommen.
Was raten Sie Menschen, die noch nicht so richtig in die Gänge gekommen sind?
Seien Sie gnädig zu sich selbst und geben Sie ihrem Körper die Zeit, die er braucht, um aus dem Wintermodus zu kommen. Es ist vollkommen normal, mit weniger Energie ins Frühjahr zu starten. Der Anpassungsprozess dauert normalerweise nicht länger als vier bis sechs Wochen. Gehen Sie in dieser Zeit spazieren, genießen Sie das schöne Wetter und setzen Sie sich selbst nicht so stark unter Druck.