Manchmal ist man von einer grundlegenden Erkenntnis über sein Leben nur einen Klick entfernt: "In Deutschland werden täglich 900.000 Menschentage durch Migräneanfälle zerstört. Nur drei von zehn Betroffenen wissen, dass der Name dieser Qualen Migräne ist. Viele wechseln Arzt um Arzt. Sie ändern die Behandlung durchschnittlich rund achtmal pro Jahr (...) Man geht zu Wunderheilern. Man lässt sich den Hals einrenken, verstellt die Betten im Schlafzimmer. Zähne werden gezogen, Brillen neu angepasst und die modernsten Fußeinlagen werden getragen. Die Halswirbelsäule und die Nasenscheidewand werden operiert. Jedoch: Die Kopfschmerzen bleiben die gleichen. Die meisten Betroffenen haben kein Konzept zu ihrer Erkrankung, nicht einmal einen Namen für ihr Leiden."
Die wichtigsten Triggerfaktoren für Migräneattacken
* Stress
* Angst
* Sorgen
* Traurigkeit
* Depression
* Rührung
* Schock
* Erregung
* Körperliche Erschöpfung
* Geistige Erschöpfung
* Plötzliche Veränderungen
* Wochenende
* Spätes Zubettgehen
* Urlaubsbeginn oder -ende
* Reisen
* Auslassen von Mahlzeiten
* Wetterumschwung
* Klimawechsel
* Föhnwind
* Helles Licht
* Überanstrengung der Augen
* Heißes Baden oder Duschen
* Lärm
* Intensive Gerüche
* Nahrungsmittel
* Gewürze
* Alkohol
* Medikamente
* Diät
* Menstruation
* Blutdruckänderungen
* Tragen schwerer Gewichte
Wer diese Sätze gelesen hat, ist der Linderung ein gutes Stück näher gekommen. Hartmut Göbel, Neurologe und Chefarzt der neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik Kiel, ist ihr Autor, das Internetportal www.migraene-schule.de sein Projekt. Das Ziel: endlich den vielen Millionen Kranken einen Ausweg aus ihrer Misere zu weisen. Denn je nach Schätzung leiden in Deutschland bis zu 18 Millionen Menschen unter Migräne. Rund elf Millionen von ihnen sind Frauen, sechs Millionen Männer und etwa eine Million Kinder.
Der Anfall kündigt sich an
Sie erleben immer wieder denselben Horror, der in aller Regel in drei aufeinander folgenden Phasen abläuft. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen kündigt sich der Anfall ein bis zwei Tage zuvor an - mit ebenso harmlosen wie unterschiedlichen Symptomen. Der Kranke kann zum Beispiel regelrechten Heißhunger auf Süßes bekommen, aufgedreht sein oder ständig gähnen müssen.
Die eigentliche Attacke beginnt bei etwa jedem Zehnten mit Störungen des zentralen Nervensystems, der so genannten Auraphase. Sie dauert gewöhnlich 30 bis 60 Minuten. Bei den allermeisten äußert sich die Aura in Form von Sehstörungen: in einem Teil des Gesichtsfelds tauchen flimmernde Punkte oder Zickzacklinien, Schlieren oder Schleier auf, die sich allmählich ausbreiten. Andere Formen sind Schwindel, Sprachstörungen, Kribbeln in bestimmten Körperteilen, in extremeren Fällen sogar allmählich zunehmende Lähmungen an Händen oder Beinen.
Und dann kommt der Schmerz: ein pochender, pulsierender oder hämmernder Schmerz, der fast immer nur eine Hälfte des Kopfes befällt und sich langsam über Stunden ausbreitet. Bei der Migräne mit Aura beginnt er spätestens eine Stunde nach Abklingen der neurologischen Störungen; bei der Migräne ohne Aura leitet er die eigentliche Attacke ein. Zwischen 4 und 72 Stunden wütet er und macht jedes normale Leben unmöglich. Begleitet wird der Anfall zumeist von Übelkeit und Erbrechen sowie extremer Empfindlichkeit gegen Licht und Lärm. Die Betroffenen fühlen sich müde und abgeschlagen. Häufig sind sie so empfindlich, dass selbst das Kämmen der Haare schmerzt.
Migräne ist eine neurologische Erkrankung
Was dabei im Körper passiert, haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren entschlüsselt. Und ihre Erkenntnisse machen eines ganz deutlich: Migräne ist eine neurologische Erkrankung. "Die Kranken zeichnen sich durch ein besonders aktives Nervensystem aus", berichtet Professor Hartmut Göbel. "Das sind sehr leistungsfähige Menschen." Die spezielle Bereitschaft des Gehirns zu einer veränderten Reizverarbeitung lässt sich im EEG sichtbar machen: Das Organ reagiert, anders als das von Gesunden, auf wiederholte Reize mit Hochspannung und kann nicht wieder abschalten. Werden die Nerven so dauerhaft überreizt, kommt die Migräne.
Weil die Krankheit in vielen Familien gehäuft auftritt, vermuten Experten schon lange, dass Erbfaktoren eine Rolle spielen. Für Aufsehen sorgte daher vor kurzem eine Studie des Forscherteams um die Professoren Christian Kubisch vom Institut für Humangenetik der Universität zu Köln und Hartmut Göbel aus Kiel. Die Wissenschaftler konnten bei Mitgliedern von 45 Familien, in denen mehrere Personen an Migräne mit Aura leiden, zwei bisher unbekannte Gen-Veränderungen nachweisen, eine davon ist höchstwahrscheinlich für die Störung der Nervenerregbarkeit verantwortlich.
Welcher Migräniker dabei auf welche Reize reagiert, ist individuell unterschiedlich. Häufige Auslöser einer Attacke, so genannte Triggerfaktoren, sind zum Beispiel: plötzlicher Stress, starke Emotionen, hormonelle Veränderungen, aber auch ein veränderter Tagesrhythmus, etwa durch langes Ausschlafen am Wochenende oder das Auslassen von Mahlzeiten. Lebensmittel werden allerdings als Auslöser häufig überschätzt. Rotwein dagegen kann durchaus Schmerzattacken provozieren.
Erhöhte Nervenaktivität und Entzündungen
Die Nerven im Gehirn reagieren auf die jeweiligen Triggerfaktoren besonders empfindlich. Zu viele Nervenbotenstoffe werden plötzlich freigesetzt und abgebaut, wie etwa Serotonin. Wissenschaftler vermuten, dass die übermäßige Freisetzung dieser Botenstoffe für den Migränekranken zur Falle wird: Die erhöhte Nervenaktivität ruft Entzündungen an den Blutgefäßen hervor. Diese entzündeten Gefäßabschnitte werden schließlich so schmerzempfindlich, dass schon das Pulsieren des Blutes zum typischen Kopfschmerz führt.
Bis beispielsweise die Serotonin-Speicher wieder aufgefüllt sind, bleibt die Informationsübertragung im Gehirn gestört. Während des Anfalls wird der Körper fehlgesteuert: Irrtümlich löst das Gehirn Übelkeit und Erbrechen aus, die Fehlregulation der Temperatur lässt frösteln. Ist die Hirnaktivität gestört, kann man sich nicht richtig konzentrieren und erinnern. Versagt die Filterung der Sinnesreize, sind extreme Licht-, Lärm- und Geruchsempfindlichkeit die Folge, selbst aufmunternde Worte reizen, und sogar das Berühren der Haut kann unangenehm werden. Nach bis zu 72 Stunden pendeln sich die Regulationsvorgänge wieder ein, der Anfall ebbt ab. Bis zum nächsten Mal. Denn heilbar ist Migräne nicht.
Allerdings kann - und sollte! - man ihr vorbeugen. Gegen Migräne kann heute viel unternommen werden, sagt Hartmut Göbel: "Es ist nämlich überhaupt keine Tugend, Kopfschmerzen auszuhalten. Schmerzen machen noch mehr Schmerzen. Da muss man eingreifen." Die beste Prophylaxe ist, die persönlichen Triggerfaktoren zu meiden. Um ihnen auf die Spur zu kommen, hilft ein Migränetagebuch, in dem der Betroffene zum Beispiel Auslöser, Zeitpunkt und Verlauf der Attacke protokolliert.
Stress mit Entspannungstechniken begegnen
Sind Stress und Anspannung die Auslöser, kann regelmäßiger Ausdauersport ebenso helfen wie eine Entspannungstechnik. Zum Beispiel die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson: Einzelne Muskelgruppen an Händen, Armen, Beinen, im Gesicht und am Bauch werden bei dieser Technik im Wechsel angespannt und wieder entspannt. Der Patient lernt, den Spannungszustand seiner Muskulatur bewusst wahrzunehmen. Plötzlichem Stress und Anspannung kann er damit genauso entgegenwirken wie einer akuten Migräneattacke. Sich bewusst zu entspannen, sich gegen Reize abzuschirmen und körperlich zur Ruhe zu kommen wirkt beruhigend auf die übermäßig aktiven Nerven - und das am besten gleich zu Beginn des Anfalls.
Leichte Attacken lassen sich außerdem durch rezeptfreie Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure, Paracetamol oder Ibuprofen lindern. Wer während der Migräne an Unwohlsein und Erbrechen leidet, sollte bereits 15 Minuten vor dem Schmerzmittel ein Medikament gegen Übelkeit einnehmen. Das verbessert auch die Aufnahme des Schmerzmittels. Bei schweren Attacken hat sich der Einsatz von so genannten spezifischen Migränemitteln bewährt, den Triptanen. Sie wirken gezielt an den entzündeten Gefäßwänden im Gehirn. Triptane dürfen aber erst nach Abklingen der Auraphase eingenommen werden.
Tritt die Migräne an mehr als sieben Tagen im Monat auf, ist eine Therapie mit Medikamenten zur Prophylaxe sinnvoll. Ziel einer solchen Langzeitbehandlung ist es, die Anzahl der Migränetage im Monat mindestens zu halbieren und so das Entstehen von Dauerkopfschmerzen zu verhindern. Die drohen immer dann, wenn Patienten Schmerzmittel regelmäßig an mehr als zehn Tagen pro Monat einnehmen. Lässt die Wirkung des Medikaments nach, entsteht eine Art Entzugskopfschmerz. Die einzige Therapiemöglichkeit heißt dann: Entzug der Schmerzmittel.
Auch natürliche Heilmittel können helfen
Wirksame Mittel zur Vorbeugung sind zum Beispiel Betarezeptorenblocker und - bei Kombination mit Spannungskopfschmerz oder Depression - verschiedene Antidepressiva. Auch natürliche Heilmittel können die Häufigkeit der Attacken senken. Gut belegt ist etwa die Wirkung von Mutterkraut und Pestwurzextrakt. Auch Akupunktur kann zur Prophylaxe sinnvoll sein. Neueste Ergebnisse der Deutschen Akupunkturstudie (Gerac) zeigten, dass das Nadeln der Haut die Häufigkeit der Migräneattacken genauso gut senkt wie Medikamente. Patienten, die mittels Akupunktur behandelt wurden, litten anschließend im Monat durchschnittlich 2,3 Tage weniger an Kopfschmerzen. Nahmen Patienten Tabletten ein, reduzierten sie die Dauer der Migräne im selben Zeitraum um 2,1 Tage.
Einem neuen operativen Verfahren zur Behandlung von Migräne stehen viele Kopfschmerzspezialisten indessen sehr skeptisch gegenüber. Bei dem Eingriff wird ein kleiner Muskel entfernt, der zwischen Nasenwurzel und Augenbrauen liegt. In angespanntem Zustand bewirkt er die Bildung der Zornesfalten zwischen den Brauen und könnte dabei einen Gesichtsnerv reizen. Bei manchem Patienten kommt der Muskel daher vielleicht als ein Triggerfaktor in Betracht.
"Es fehlen aber wissenschaftliche Studien, welche die Wirksamkeit dieser Methode zweifelsfrei belegen", erklären die Experten der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft in einer Stellungnahme und warnen nachdrücklich vor einer voreiligen Operation. "Ausgehend davon, was wir inzwischen über Ursachen und Entstehung der Migräne wissen, ist es nicht nachvoll-ziehbar, warum diese chirurgische Methode Migräne dauerhaft heilen sollte. Eine Migräne ist eine genetisch bedingte Erkrankung." Und daran ändert der Eingriff natürlich nichts.