Die American Psychiatric Association (Apa) hat binnen kürzester Zeit geschafft, was sonst nur eine heftige Grippewelle zustande bringt: Sie hat Millionen gesunder Menschen über Nacht zu Kranken gemacht.
Wie das ging?
Erstaunlich einfach. Die Forscher um den Mediziner David Kupfer haben ihr überarbeitetes Diagnosehandbuch DSM-5 gerade in San Francisco vorgestellt. DSM-5 ("Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders") ist so etwas wie die "Bibel der Psychiatrie" - ein Manifest, an dem sich die ganze Fachrichtung orientiert.
Seit den Fünfzigerjahren erklärt das DSM Krankheitsbilder und benennt Symptome. Die Vorgaben beeinflussen, was weltweit als normales oder psychisch gestörtes Verhalten angesehen wird. So entscheidet sich, wer Anrecht auf eine Therapie oder verschreibungspflichtige Medikamente erhält. Mittlerweile dient das Regelwerk als Grundlage der Forschung und findet weltweit Beachtung.
Immer mehr neue Krankheiten
Doch mit jeder Ausgabe stieg auch die Zahl der Diagnosen. Waren es im ersten Manual, das 1952 erschien, noch 106, so ist der Umfang bereits beim DSM-4, das 1994 veröffentlicht wurde, auf 297 gewachsen - zur Freude der Pharmaindustrie, die für jede Störung die passende Pille bereithalte, kritisieren Gegner.
Rund 160 Wissenschaftler arbeiteten jahrelang an der fünften Ausgabe des DSM. Auch diesmal sind einige umstrittene Neuerungen dazugekommen. Das amerikanische Forschungsinstitut NIMH (National Institute of Mental Health) hat sich von dem Werk bereits distanziert. Der Grund: Einige der neuen Diagnosen können Menschen mit Alltagsproblemen formal zu Geisteskranken abstempeln.
Einer der größten Kritiker des DSM-5 ist der renommierte amerikanische Mediziner Allen Frances. Als ehemaliger Leiter der Arbeitsgruppe war er an der Entstehung des Vorläufers DSM-4 beteiligt. Jetzt ernannte Frances das Erscheinen des Nachfolgebandes zum traurigsten Moment seiner Berufslaufbahn. Er kritisiert eine "diagnostische Inflation", fragwürdige Diagnosen und das Verschwinden der Grenze zwischen normalen und krankhaften Verhaltensweisen.
Mehr als zwei Wochen Trauer sind zu viel
Tatsächlich enthält das DSM-5 einige strittige Änderungen: Wer länger als zwei Wochen nach dem Tod eines geliebten Menschen trauert, könnte bereits ein Fall für den Therapeuten sein. Denn dann dürfen Psychiater eine Depression diagnostizieren – obwohl sich der Patient noch in einer akuten Trauerphase befindet. Betroffene hätten damit Anspruch auf verschreibungspflichtige Psychopharmaka, inklusive aller Nebenwirkungen. "Wer intensiv trauert, erfüllt zwar formal die Kriterien einer Depression, ist aber nicht krank", erklärt Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Eine normale Trauerphase könne sogar "Monate oder über ein Jahr dauern und sollte nicht als behandlungsbedürftig gelten."
Kritiker befürchten, dass mit dem neuen Regelwerk auch die Anzahl vermeintlich kranker Kinder steigen wird. Der Grund: Mit der Diagnose "Disruptive Mood Dysregulation Disorder" (DMDD) hat die Apa eine Störung eingeführt, die es vorher gar nicht gab. Doch woran sind betroffene Kinder zu erkennen? Sie leiden dem Manual zufolge unter starken Wutausbrüchen. Sie schreien, weinen lauthals und stampfen dabei mit ihren Füßen auf den Boden. Doch welche Eltern kennen dieses Verhalten bei Kleinkindern nicht? Für BPtK-Präsident Richter ist die Forschung zu Wutanfällen ohnehin "viel zu dürftig, um damit eine neue diagnostische Kategorie zu begründen."
Wutkrankheit und Hautrupfen
Nicht nur die "Wutkrankheit" hat es neu in den Katalog geschafft: Starke prämenstruelle Beschwerden gelten künftig ebenso als psychische Krankheit, wie das "Binge-Eating". Betroffene leiden unter wiederkehrenden Fressanfällen und stopfen Lebensmittel wahllos in sich hinein. Im Gegensatz zu Bulimikern erbrechen sie im Anschluss aber nicht. Wer ständig an seiner Haut kratzt und puhlt, leidet womöglich an einer "Skin-Picking-Störung" (zu deutsch: Hautrupfen). Sie steht ab sofort als Krankheit im DSM. Kritiker zweifeln allerdings die Existenz des Leidens an. Auch die Spielsucht und das Messie-Syndrom gelten nun als Krankheiten – eine Entwicklung, die aus Sicht einiger Fachleute allerdings längst überfällig war.
Änderungen gab es auch bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS): Ab sofort kann selbst Teenagern die Diagnose ADHS gestellt werden – vorausgesetzt Symptome wie Unruhe und schlechte Konzentrationsfähigkeit zeigten sich erstmalig vor dem zwölften Geburtstag. Die bisherige Altersgrenze von sieben Jahren wurde somit um fünf Jahre angehoben. Doch in diesem Lebensabschnitt stehen Kinder kurz vor der Pubertät oder kämpfen mit schulischen Schwierigkeiten. "Dann besteht die Gefahr, dass mögliche Schulprobleme medikalisiert werden", warnt Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Ohnehin steigen die ADHS-Diagnosen in Deutschland seit Jahren, knapp sieben Prozent der Jungen im Alter von elf Jahren schlucken derzeit Medikamente wie Ritalin. Bei gleichaltrigen Mädchen sind es etwa zwei Prozent.
"Überflüssige Neuauflage"
Fraglich bleibt, warum die Apa das Regelwerk überhaupt aktualisiert hat. "Diese Neuauflage ist weitgehend überflüssig", erklärt Wolfgang Maier, Präsident der DGPPN. "Es gibt keine neuen Erkenntnisse, die das DSM-5 rechtfertigen."
Trotz aller Kritik: Einschneidende Veränderungen für das deutsche Gesundheitssystem bringt das DSM-5 vorerst nicht mit sich. Psychologen hierzulande arbeiten nämlich mit der zehnten Ausgabe der "International Classification of Diseases" (ICD-10). Sie wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben. Allerdings ist bekannt, dass sich die Weltgesundheitsorganisation maßgeblich an den Vorgaben des DSM orientiert. Spätestens in zwei Jahren, wenn die Veröffentlichung der ICD-11 ansteht, dürften die neuen Vorgaben also auch in Deutschland ankommen.
In den USA ist jeder Psychiater schon jetzt dazu verpflichtet, ein aktuelles Exemplar des DSM zu besitzen. Der Preis pro Buch liegt derzeit bei 199 Dollar, umgerechnet rund 150 Euro. Begleittexte und -bücher gibt es für jeweils rund 70 Dollar. In den kommenden Wochen spült das neue Diagnosebuch Millionenbeträge in die Kasse der Apa.