Blasen, überall Blasen. In Streichholzkopfgröße, mit Eiterflüssigkeit gefüllt. "Windpocken", diagnostizierte ein junger Assistenzarzt. Er drückte Maria Neubauer (Name geändert), der Frau mit den zig Blasen, eine Windpockensalbe in die Hand. "Tragen Sie das auf, das hilft", ordnete er an. Doch der Mediziner irrte: es half nicht. Im Gegenteil. Als Maria Neubauer sich die Salbe auf die Haut schmierte, bildeten sich weitere Blasen. Mehr und mehr wurden es. Wucherten wie Unkraut. Der Juckreiz ließ sie in der Nacht kaum schlafen.
Heute, knapp 19 Jahre später, schüttelt die 53Jährige über diese folgenschwere Fehldiagnose immer noch den Kopf. Obwohl das nicht die einzige Kuriosität ist, die Maria Neubauer mit Medizinern erlebt hat seit ihrem 34. Lebensjahr. Damals kehrte sie nach einem stressigen Spanienurlaub zurück und sah, wie sie sagt, "aus wie ein Streuselkuchen". Was sie wenig später erfahren sollte: Die eitrigen Stellen waren Symptome der Autoimmunkrankheit Lineare IGA-Dermatose, eine Blasen bildende Hauterkrankung. Ein ganz anderes Kaliber also als Windpocken - und extrem selten. "Ich habe bisher nur zwei Menschen kennen gelernt, die auch darunter leiden", sagt Maria Neubauer. Und fügt nach einer kurzen Pause an: "Was mir fehlt, ist der Austausch."
Kaum ein Arzt weiß Bescheid
So einsam sich Maria Neubauer mit ihrer Erkrankung fühlt - in der Summe sind Patienten mit seltenen Krankheitsbildern häufiger als vermutet: 30.000 Krankheiten sind weltweit bekannt, davon zählen etwa 6000 zu den seltenen Krankheiten, auch "Orphan Diseases" genannt. Manche Namen klingen wie Zungenbrecher: Sarkoidose, Hypophosphatasie, Furukawa-Taakagi-Nakao-Syndrom. Jede Woche werden in der medizinischen Fachliteratur fünf neue seltene Krankheiten erstmals beschrieben. 80 Prozent der seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt, daher machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar. Andere entwickeln sich erst im Erwachsenenalter wie etwa die Huntington-Krankheit. Häufig sind diese Krankheiten lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität.
Erkrankungen gelten dann als selten, wenn weniger einer unter 2000 Menschen daran leidet. Allein in Deutschland gibt es rund 4 Millionen Betroffene, europaweit 30 Millionen. Doch das sind nur Schätzungen - die tatsächliche Zahl ist unbekannt, denn viele der Betroffenen erhalten nie oder erst nach vielen Jahren eine korrekte Diagnose. Typisch: Die Patienten rennen verzweifelt von Arzt zu Arzt - und keiner weiß Bescheid.
53 Jahre bis zur korrekten Diagnose
"Die medizinischen und wissenschaftlichen Kenntnisse über seltene Krankheiten sind leider gering", sagt Arndt Rolfs, Mediziner an der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum Rostock. Studien unter der Leitung von Arndt Rolfs bestätigen: Im Durchschnitt dauert es sieben bis zehn Jahre bis zur richtigen Diagnose. Auf seiner Odyssee wird der Betroffene von Ärzten aus bis zu zehn verschiedenen Fachdisziplinen unter die Lupe genommen, beispielsweise von Dermatologen, Neurologen und Kardiologen. Ein Fall von einem Mann ist bekannt, der erst nach 53 Jahren erfuhr, was ihm tatsächlich fehlte.
Das Drama: Ohne korrekte Diagnose keine adäquate Behandlung. Erste Anlaufadresse bleibt immer noch der Hausarzt und Allgemeinmediziner. Aber der sieht sich oft kaum in der Lage, sich durch das Dickicht der außergewöhnlichen Erkrankungen zu kämpfen. "Die Anzahl der Erkrankungen, aber auch die Zwänge unseres Gesundheitssystems machen es den Ärzten nicht gerade leicht", sagt Arndt Rolfs. Aber: "Das simple Darandenken, es könnte ja eine seltene Erkrankung sein, ist schon die halbe Diagnose." Besteht ein Verdacht, ermöglichen molekulargenetische Methoden in vielen Fällen eine klare Diagnose. Auch wenn sich dann eine neue Frage anschließe, die nicht in jedem Fall einfach zu beantworten sei: Wohin nur überweisen?

Experimente bei der Behandlung
Bekommt die Krankheit endlich einen Namen, bedeutet das oft noch längst nicht das Ende der qualvollen Odyssee. Meistens gibt es keine Medikamente und keine Behandlungsmöglichkeiten. "Und dann wird einfach darauf losexperimentiert", erzählt Maria Neubauer. Jeder der rund zehn Ärzte, bei denen sie in Behandlung war, schwor auf ein anderes "Heilmittel". Unter anderem wurde ihr ein Medikament gegen Lepra verordnet, woraufhin sich bei ihr eine Leukozytose entwickelte, ein rapide Vermehrung ihrer weißen Blutkörperchen. Mit Hilfe eines Heuschnupfenmittels war Maria Neubauer vier Tage lang beschwerdefrei. Doch wegen der Nebenwirkungen - starke Kopfschmerzen - musste die Arznei wieder abgesetzt werden.
Weil sie sich von der Schulmedizin keine Hilfe mehr versprach, begab sich Maria Neubauer in die Hände alternativer Mediziner. Doch die Methoden der Akupunkteure und Heilpraktiker verschlimmerten die Symptome. "Ich habe sehr gelitten, aber ich habe das alles mit mir machen lassen", sagt Maria Neubauer. "Wenn man so krank ist, dann ist man einfach nicht mehr in der Lage, sich zu wehren." Nur hoch dosiertes Cortison lindert seit Jahren die Schmerzen. Auch wenn die einst schlanke Frau seitdem mit erheblicher Gewichtszunahme zu kämpfen hat.
Wichtige Infos selbst recherchiert
"Man wird zum Versuchskaninchen", sagt auch Birgit Barth. Die 48-Jährige erhielt vor drei Jahren die Diagnose HNPCC. Eine erbliche Darmkrebsform, die bereits beforscht wird. "Ich nahm an, dass sich Ärzte mit meiner Krankheit auskennen", sagt Birgit Barth. Dem war aber nicht so: "Meine Ärzte widersprachen sich. Einige brummelten nur etwas Unverständliches in den Bart und schoben die Diagnose bei Seite."
Heute hat die Kielerin bei jedem Arztbesuch eine Art Patientenakte und eine Liste mit Weblinks dabei. "Gott sei Dank gibt es auch Ärzte, die die Bereitschaft haben, sich auf einer Ebene mit ihren Patienten zu unterhalten", sagt sie. Alle Informationen sind selbst recherchiert. "Zu seltenen Erkrankungen findet man kaum Informationen zur Krankheit im Internet. Wird man schließlich doch fündig, sind die Abhandlungen zumeist auf Englisch oder in medizinischem Fach-Chinesisch verfasst", erzählt Birgit Barth. Da Patienten mit seltenen Erkrankungen selbst die kompetentesten für ihre Erkrankung seien, will auch Birgit Barth deren Austausch fördern mit ihrer Homepage www.orpha-selbsthilfe.de. Sie weiß: "Oft gibt es keine Selbsthilfegruppen. Es ist schwer, sich gegenseitig zu finden."
Europäische Datenbank
Arndt Rolfs ist deutschlandweit einer der wenigen Ansprechpartner, der Ärzten klare und transparente Strukturen an die Hand geben kann. Im Internet will der Mediziner unter www.selteneerkrankungen.de bis Ende 2009 eine Datenbank aufbauen. Dort sollen Symptome aufgelistet werden, anhand derer nicht nur Ärzte, sondern auch Betroffene erste Hinweise auf die Krankheit erhalten, an der sie möglicherweise leiden. Eine andere, eine europäische Datenbank, von Fachleuten ins Leben gerufen, findet sich bei www. orphanet.de.
Erste Hilfe bei der Suche nach einer Diagnose gibt es seit 2004 auch bei der Berliner "Achse", der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen" (www.achse-online.de ). "Die Waisenkinder der Medizin brauchen dringend Hilfe", sagt Sprecherin Saskia de Vries. In dem Netzwerk haben sich 75 Patientengruppen zusammengeschlossen. Sie vertreten Krankheiten, von denen mitunter weltweit nur 25 bis 40 Fälle bekannt sind. Auch Menschen ohne Diagnose - immerhin 15 Prozent - werden in einer Gruppe zusammengebracht. "Achse" verweist, wenn denn welche existieren, an Selbsthilfegruppen. Dort erhalten die Betroffenen nicht nur seelische Unterstützung, sondern auch praktische Tipps und Adressen von ärztlichen Ansprechpartnern, die sich mit ihrer mutmaßlichen Krankheit auskennen.