Die ersten Stars - von Julianne Moore bis Eva Longoria - haben die Treppen zum Festivalpalast ohne größere Zwischenfälle erklommen, der Abspann des Eröffnungsfilms "Die Stadt der Blinden" ist lange durch: Der Zirkus der 61. Filmfestspiele von Cannes hat begonnen.
Dicke Schlitten, dicke Lippen und kleine Hunde beherrschen das Stadtbild. Dabei findet der wahre Promi-Wahnsinn schon seit Tagen außerhalb statt. Und zwar im etwa 15 Helikopter-Minuten entfernten St. Jean-Cap Ferrat. Dort warten Angelina Jolie und Brad Pitt derzeit darauf, Zwillinge zu kriegen und werden dabei rund um die Uhr von Paparazzi belagert.
Bootstour mit Jolie
stern.de kann unter Berufung auf die vorderste Fotografen-Front Entwarnung geben: Der werdenden Mutter gehe es noch so gut, dass sie am Mittwochmorgen samt Familie zu einer Bootstour aufbrach, heißt es. Ihrem Auftritt im Festivalpalast am Donnerstag zur Präsentation des Trickfilms "Kung Fu Panda", für den sie einer Tigerin ihre rauchige Stimme leiht, steht demnach nichts im Wege.
Also zurück an die Croisette, wo sich am Mittwoch die Jury vorgestellt hat: Deren Präsident Sean Penn redet fast genauso wenig wie Schweigemeister Robert De Niro. Nach einer total EU-illegalen Zigarette im Saal hat er sich dann aber sogar zum Lächeln überwunden. Und auf die üblichen "Wie soll das alles werden?"- und "Wie wollen Sie Filme bewerten?"-Fragen fand Penn die kurze wie charmante Antwort: "Wir werden hoffentlich bei vollem Bewusstsein und mit leerer Blase dasitzen, wenn der Film anfängt".
Penns Coolness fand freundliche Unterstützung bei Deutschlands Jury-Beitrag Alexandra Maria Lara. Von deren schauspielerischen Fähigkeiten kann man halten, was man will, doch hinterließ ihr Dauerstrahlen in Kombination mit leichtem Erröten solch einen angenehm natürlichen Eindruck, dass sogar die glitzernde Natalie Portman neben ihr als Tusse am Rande verblasste. Bleibt abzuwarten, ob es Madonna, die in Cannes für lauter gute Zwecke unterwegs ist, neben ihrem politisch hartknochigen Ex Penn besser ergehen wird.
Machtspiele und Mord
Aber es soll ja um Filme gehen: Der Festival-Opener "Blindness" (Die Stadt der Blinden) hat am Morgen zwar mit drastischen Bildern wach gerüttelt, aber trotzdem nicht überzeugt: Wäre der Film nicht von Regisseur Fernando Meirelles, wäre er vielleicht sogar bemerkenswert. Doch nach der gefeierten Vorlage von "City of God" ärgern nun mangelnde Konsequenz und Logikfehler.
Die Adaption des gleichnamigen Romans von Nobelpreisträger Jose Saramago erzählt vom Kollaps einer Zivilisation. In einer US-Stadt bricht eine Krankheit aus, die zur plötzlichen Erblindung führt. Die Kranken werden unter Quarantäne gestellt und sich selbst überlassen, es folgen Machtspiele, Vergewaltigung, Mord und ein Neuanfang. Botschaft ist, dass die Menschen wieder lernen müssen, "wirklich" zu sehen, Autoritäten in Frage zu stellen, die Wahrheit hinter der gängigen Meinung und dem Vorurteil zu suchen. Nicht abstrakt genug und gleichzeitig zu wenig real schwankt der Film zwischen spannender Unterhaltung und nicht durchgehaltener Geschichte. Aber immerhin ist Julianne Moore erstmals als Blondine zu sehen.
Der Weg zurück
Da wo "Blindness" aufgehört hat, machte am Abend der "animierte Dokumentarfilm" "Waltz with Bashir" weiter. Ein israelischer Filmemacher geht auf die Suche nach seiner Erinnerung an den Einsatz im Libanonkrieg als 19-Jähriger. Kompromisslos ehrlich, sich dem persönlichen Horror stellend und mit unglaublichen Bildern erzählt Regisseur Ari Folman, wie Stück um Stück die Erinnerung an Massaker in palästinensischen Flüchtlingslagern zurückgewonnen wird. Die Puzzleteile fallen dabei im Takt der grandiosen Musikauswahl, die von berauschender Klassik bis zum umgedichteten Cake-Song "I bombed Korea today" reicht. Vielleicht hat Marjane Satrapis "Persepolis" tatsächlich ein neues Genre eröffnet. Allerdings ist "Waltz with Bashir" deutlich härter und letztlich unversöhnlich.
Mit dem Tod vor Augen taumelt man schließlich nach draußen in einen trotz Regenwarnung milden Abend. Während die Sonne an der französischen Riviera langsam untergeht, das azurblaue Wasser gegen Holzplanken platscht, auf denen Filmschaffende, -Verkaufende und Journalisten Cocktailgläser balancieren, setzt die Kakophonie der verschiedenen Beachpartys an der Croisette ein. Und immer noch schieben sich dicke Schlitten mit dicken Lippen und kleinen Hunden durch die Straßen, während im Autoradio die in Frankreich so verehrten Tokio Hotel laufen: "Die Lichter fangen dich nicht/ Sie betrügen dich/ Spring nicht", singt Bill Kaulitz. Aber es fängt doch gerade erst an.