Filmfestspiele Cannes Blind unter Palmen

Irgendetwas ist faul an der Croisette: Anstatt wie gewohnt glamourös geben sich die Filmfestspiele von Cannes, die am Mittwoch beginnen, vor allem ernsthaft und politisch. Dabei ist das doch Sache der Berlinale. Die hat wiederum auch noch in Sachen Glamour die Latte hoch gelegt. Verkommt Cannes zum Nachzügler?

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Nicht nur, dass das offizielle Cannes-Plakat eine Frau mit Balken vor den Augen zeigt. Der Eröffnungsfilm des bedeutendsten Filmfests der Welt ist ein Drama namens "Blindness" (Erblindung/ Verblendung). Die Bewohner einer amerikanischen Stadt verlieren von einer Minute auf die nächste die Sehfähigkeit. Nur eine Frau ist immun und muss feststellen, dass es der noch größere Horror ist, die einzig Sehende unter Blinden zu sein.

Dieser zynische Augenaufschlag, dieses Infragestellen unseres Blicks auf die Weltordnung, diese offenbare Kritik an der Meinungsvormacht der USA gleich zum Auftakt erscheint wie eine Verkehrung der Festivalwelt. Ausgerechnet die Glamour-Orgie von Cannes beginnt am Mittwoch mit einem politischen Faustschlag ins Gesicht. Dessen Wucht wird verstärkt durch das Revolutions-Epos "Che", eine kritische Filmbiografie über den italienischen Politiker Giulio Andreotti sowie Erinnerungen eines israelischen Soldaten an Militäraktionen im Libanon in den 80ern. Dazu kommt Bush-Feind Sean Penn als Präsident der Jury.

Liegt es am aktuellen 68er Gedenken oder eher an der heftigen Kritik, die sich der letztjährige lasche Opener "My Blueberry Nights" eingefangen hat? Oder daran, dass die Berlinale in diesem Jahr schon eine große Portion Cannes vorweg genommen hat? Denn: Was kann nach den Rolling Stones und Martin Scorsese, Madonna, Penélope Cruz, Constantin Costa-Gavras, Tilda Swinton, Scarlett Johansson, Daniel Day-Lewis und Shah Rukh Khan eigentlich noch kommen?

Weniger Sex, mehr gute Tat

Nun ja, Madonna kommt einfach noch mal. Allerdings hat sie die Premiere ihres Regiedebüts "Filth and Wisdom" (Dreck und Weisheit) der Berlinale geschenkt, so dass für Cannes eine wiederum schwer im Magen liegende Dokumentation über Aidswaisen und ein Auftritt bei der Amfar-Aids-Gala übrig bleiben. Weniger Sex, mehr gute Tat.

Natalie Portman, die neben Sean Penn und Alexandra Maria Lara in der Cannes-Wettbewerbs-Jury sitzt, hat in Berlin zusammen mit Filmpartnerin Scarlett Johansson das saftige Historiendrama "Die Schwester der Königin" präsentiert. Johansson ist in Cannes bisher noch nicht in Sicht. Das gibt drei Punkte Abzug auf der Sexiness-Skala. Auch wenn Angelina Jolie erwartet wird, die allerdings kurz vor der Entbindung ihrer Zwillinge steht.

Penélope Cruz soll in Cannes als Hauptdarstellerin Woody Allens neuestes Werk "Vicky Cristina Barcelona" präsentieren. Auf der Berlinale hat "Elegy" den nackten Körper der Spanierin gefeiert, was für heftige Auf- sowie Erregung sorgte. Diesmal soll es allerdings noch ein bisschen heftiger werden. Und dabei kommt dann doch noch Johansson ins Spiel. Damit ist der Sexfaktor definitv ausgeglichen.

Cannes' Trumpf

Und Hollywoods harte Knochen? Clint Eastwood kommt, um seinen Prohibitions-Thriller "Changeling" zu zeigen. Für die Avantgarde sorgt Steven Soderbergh mit einem viereinhalbstündigen Zweiteiler über Che Guevara. Die Berlinale punktete dagegen mit Paul Thomas Anderson, Andrzej Waijda und Scorsese.

Doch jetzt knallt Cannes der Hauptstadt einen Trumpf vor die Nase: Der vierte Teil von "Indiana Jones" wird am 18. Mai im Festivalpalast laufen, vier Tage vor der offiziellen Weltpremiere. Und das heißt Steven Spielberg, Harrison Ford und Cate Blanchett auf dem roten Teppich. Berlinale geht nicht über Los und zieht keine 3000 Glamour-Punkte ein. Zwar ist Mick Jagger genauso alt und faltig wie Ford, aber "Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels" ist - egal wie schlecht er gegen die Vorgänger abschneiden wird - im Vergleich zu Scorseses elaborierter Konzert-DVD einfach großes Kino.

Eine Frage der Coolness

Bleiben die Location und das Wetter. Da hat Berlin schlechte Karten, obwohl dieser Februar es wirklich gut gemeint hat. Trotzdem liegen Strand, Palmen und azurblaues Meer natürlich klar in Führung. Doch hat Cannes ohne Frage ein großes Manko: die Coolness. Denn die Härte und der Hunger der ewigen Baustelle Berlin sind auch beim Filmfest am Potsdamer Platz spürbar.

Das Luxushotel Carlton direkt an der Croisette mit seiner Jury-Präsident-Suite, den dicken Teppichen und Anekdoten über lange verstorbene Filmstars wirkt gegen die elegante Schönheit des Adlon am Brandenburger Tor einfach nur altbacken. Da nutzen auch die lustigen Retro-Displays in den angestoßenen Fahrstühlen nichts. Die sind nämlich echt alt. Das Frühstück auf der Terrasse am Meer? Da gaffen einem die Touris auf den Teller, während man im Adlon ungestört im Wintergarten dem Luxus frönen kann. Patina gehört zum Charme der Küstenstadt, ist aber nicht alles. Über die Vorzüge eines Yachtausflugs kann man sich streiten. Und es ist übrigens Regen angesagt.

Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Cannes ist immer noch das große, glamouröse Filmfest Europas, doch muss es aufpassen, dass Berlin nicht irgendwann Trümpfe aus dem Ärmel zaubert, die das Mittelmeer-Flair aufwiegen werden. Aber vielleicht will Cannes genau das nicht sehen, was auch eine plausible Erklärung für das Plakat und den Eröffnungsfilm wäre.

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