M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Mit 11 - über den Tod vor dem Frühling und den warmen Mantel Kindheit

Früher war alles besser. Naja, zumindest leichter. Als man noch Kind war. Bevor die ganze Scheiße richtig los ging. Der Oster-Trip nach Sylt weckt bei Micky Beisenherz viele Erinnerungen.

Mein Rücken fühlt sich an wie der eines saudischen Bloggers.

Gerade eben starren mich vier Augenpaare aus über mich gebeugten Körpern an. In der Luft liegt ein unausgesprochenes "Notarzt", aber ich habe mir nichts gebrochen.

Ich will den Schmerz lediglich noch ein bisschen aus mir raus liegen, vorm Erheben von den Wohnzimmerdielen.

Noch Aufstehen oder schon Auferstehen?

Es ist Ostersonntag, und ich bin seit ein paar Minuten auf Sylt.

Meinen Bruder und seine Familie besuchen. Mit den Kindern und Freunden bewohnen sie ein Haus. Wie ein Traktor plockert mein Range Rover erhaben vor sich hin. Das beste Reiseauto. Wenn er denn anspringt.
1984er Baujahr. Armlehnen. Polstersessel. Teppichboden. Seitliche Holzverkleidungen.

Ein rollendes Achtzigerjahre-Wohnzimmer. Fehlen nur noch Katzenzungen auf der Mittelkonsole und Denez Törzs, der in seinem cosbyesken Pullover von der Rückbank aus eine neue Folge der Sesamstraße anmoderiert.

Autos, die älter als 30 Jahre alt sind, machen mich sentimental.

Schon lange denke ich darüber nach, mir einen R4 zu kaufen.

Mit so einem hatte meine Mutter mich anno 1980 herumgefahren.

Super Karre. Tödlich. Aber super.

Da. Das Haus. Direkt an der Düne.

In List. Nahe dem "Ellenbogen".

Meinen eigenen habe ich mir fast gebrochen, beim Versuch, den Io Hawk meines elfjährigen Neffen zu...nun ja...reiten.

Der Io Hawk ist wie ein Segway. Nur ohne lästige Stange. Was das Fahren wesentlich lässiger aussehen lässt.
Es sei denn, man ist: Ich. Mit der Verweildauer eines minderbegabten Rodeoreiters knalle ich auf den Boden. So laut, dass die Kinder aus ihren Zimmern kommen.

Dass man vor Herausgabe des gekauften Gerätes unterschreiben muss, dass der Hersteller unter keinen Umständen für Personenschäden haftbar gemacht werden darf, man ahnt, warum.

Auf den Schock erstmal Omma anrufen und zu Ostern gratulieren. iPhone auf Lautsprecher gestellt.

Erst mal Oma verarschen

Das Gespräch verrutscht von Sekunde 1 an, als ich mir einen pseudotürkischen Akzent zulege, mich Özbek nenne und meine Großmutter wissen lasse, dass ich – offenbar türkischer! –Flüchtling gleich mit Hund und 12 Verwandten einziehen werde. Das Haus ist ja so schön groß.

Omma schnappt nach Luft. Flüchtlingspanik wie ein destillierter Erfurter Marktplatz. Die Hütte tobt leise.
"Hörnse ma. Ich bin 91 Jahre alt und leb alleine. Ich weiß nicht, watse wollen." Clevere Ansage, wenn man Angst vor unerwünschten Eindringlingen hat.

Zumal es nicht mal stimmt. Sie lebt mit vier (!) Generationen unter einem Dach. Aber das hat sie bei dem Stress glatt vergessen.

1:30 min hält sie durch. Dann legt sie auf und ist für die nächsten fünf Minuten auch nicht mehr zu erreichen.

Meinen erklärenden Ostergruß quittiert sie mit einem liebevollen "Du Arschloch!" Enkel. Kann ich.

Genau wie lustiger Onkel. Meine Kernkompetenz.

Mein Lieblingsonkel war genauso alt wie ich jetzt, als er starb.

38.

38. Motorradführerscheinschwangerschaft. Haartransplantationsphantasien.

Vorsorgeuntersuchungseintrittsalter.

Alter.

Mein Kumpel Basty ist vor ziemlich genau einem Jahr in fast ziemlich genau demselben Alter gestorben.
Roger Cicero hat's mit 45 erwischt. Risiko- statt WhatsApp-Gruppe.

Eine Kacke ist das. Absurd.

Niemand sollte sterben, bevor der Frühling richtig los geht.

Der Frühling ist die beste Zeit des Jahres.

Aufbruch. Hoffnung. Das Beste liegt noch vor einem.

Fühlte sich immer schon gut an.

Und Ostern geht es immer ans Meer.

Ich sehe den präpubertären Elfjährigen und erinnere mich daran, wie ich immer mit meinem Onkel Michael, Tante Marlies und meiner Lieblingscousine Karen nach Holland gefahren bin.

Wind. Strand. Pfahlmuschelgeruch in der Luft. Auf den glatten Steinen unten am Wasser ausrutschen und ins Meer fallen.
Spiel des Wissens spielen, auf dem Wohnzimmerteppich in dem kleinen Ferienhaus in der Nähe von Renesse.
Da, wo wir nur wenige Jahre später besoffen durch die Gegend marodieren werden.

Noch ist alles leicht

11. Das letzte gute Jahr, bevor die ganze Scheiße richtig los geht.
Noch ist alles leicht.

Bis auf mich selbst. Ich bin elf Jahre alt, saufe ungelogen drei Liter Milch am Tag und wiege in etwa so viel wie ein ausgewachsener Bernhardiner.

Was mich bereits ein Jahr später knutschhügelinkompatibel machen soll, aber noch habe ich vor allem: Musik.

Peter Gabriel. "So". Als Kauf-MC. Ein Erweckungserlebnis.

Während der Fahrt auf der Rückbank des Nissan Sunny "Red Rain" in Dauerschleife. Sowas Kraftvolles hatte ich bis dahin noch nicht gehört.

Mit dem Walkman auf dem Deich spazieren, "Don't give up".
Die ersten Takte.

Die Entdeckung der Melancholie.

Abends liege ich unter dem Dach in der Kammer, lese Onkel Toms Hütte und höre "Mercy Street".

Irgendwann dort fange ich an, die Tür abzuschließen.

Und beende somit gleichzeitig ihre Karriere als Kinderzimmertür.

Gott, was für Eindrücke im präomnipornösen Masturbationspleistozän alles herhalten mussten. Alles und jeder wurde missbraucht. Sorry.

Gegenwart. Spaziergang. Sonne. Wind. Bier. Wein. Hunger.

Abendessen einkaufen. Bei Gosch fällt dem Kumpel meines Bruders auf, dass er weder Fisch mag, noch verträgt. Bei: Gosch. Unglücklich.

Nia, die Achtjährige und ich juckeln mit dem Rover durch die Pampa. Sie tanzt auf dem Beifahrersitz ausgelassen zu meiner Musik.

"Was ist das?"

"Starman. David Bowie."

"Cool. Aber ich glaube, Papa würde daran keinen Gefallen finden."

Was übrigens nicht stimmt. Ihrem Papa verdanke ich meine musikalische Früherziehung. Dire Straits. Pink Floyd. Men at Work.

Und natürlich: Phil Collins.

Ich habe gerade eine schwere PhilCollinitis. Die ersten zwei Alben in Dauerschleife.

Nia ist altklug, applausfreudig und wahnsinnig phantasievoll.

Sie kann sich stundenlang mit sich selbst beschäftigen.

Als Kind ist das gut.

Im Grunde genommen ist sie genau wie ich in dem Alter.

Natürlich teilen wir uns ein Zimmer.

Endlich wieder unter einem Holzbalken pennen.

Wir beschließen, dass das Fenster wieder geschlossen wird.

Ich liebe es, den Wind zu hören, der nachts durch die Dünen pfeift, aber Nia hat Angst davor. Und vor Uhus.

Zum Einschlafen Hanni & Nanni

Da machste nix. Sie verspricht mir aber, das Fenster zu öffnen, sobald sie morgens wach ist.
Zum Einschlafen hören wir Hanni & Nanni.

Aber eine von den alten Folgen.

Die neuen haben so eine silbermondige Pseudorockscheiße als Titelmelodie.

Die alten sind der Shit. Mit Hans Paetsch als Erzähler.

Hans Paetsch. Der Märchenonkel.

Was für ein friedliches Einschlafen.

Wieso höre ich mit fast vierzig noch TKKG, Die drei Fragezeichen, Jan Tenner, ALF, Edgar Wallace oder Fünf Freunde?

Ich weiß doch seit Jahrzehnten, wie es ausgeht!

Ich bin doch keine 11 mehr.

Geborgenheit im Ritual. Je komplexer die (eigene) Welt, desto mehr sehnen wir uns nach dem Sound der Jugend, dem Aroma der Kindheit.

Ein akustisches IndenSchoßkriechen.

Morgens. Noch im Halbschlaf merke ich, dass die Kurze direkt nach dem Wachwerden das Fenster öffnet.
Dann macht sie zaghaft Krach, um mich aufzuwecken, bis sie schließlich vorsichtig an meiner Decke raschelt.
So ein tolles, unglaublich soziales Mädchen.

Ein letzter Kaffee. Aufbruch. Abfahrt.

Nach zwei Minuten rödeln und latentem ADAC-Feeling rasselt sich der Range Rover ins Leben zurück.

Autozug.

Der Regen verzieht sich.

Die Sonne bricht durch.

Auf dem iPod, das Phil Collins Album, das mir mein Bruder 1985 auf eine 90er-Maxwell-Kassette überspielt hat. "I cannot believe". Das Saxophon-Solo ab Minute 3:03.

Rund 30 Jahre später immer noch Gänsehaut.

Frühling.

Leben.

Welch ein Glück.

PRODUKTE & TIPPS