So eine Krise hat ja auch etwas Kathartisches. Sie liefert Erkenntnisse, die ein reibungsloser Ablauf gar nicht zulässt. Da gibt es die eher unschönen, zum Beispiel, dass der Durchschnittsmensch in Zeiten großer Nervosität durchaus bereit ist, für eine Rolle vierlagiges Toilettenpapier auch einer Schwangeren in den Bauch zu boxen. Wobei – wer schon immer wusste, dass die Welt voller Arschlöcher ist, darf sich über das viele Toilettenpapier nicht wundern.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Coronavirus: eine Gelegenheit zur Inventur
Nein, diese globale Welle lässt sich, hat man die erste Existenzangst einmal hinter sich gelassen, auch betrachten als gute Möglichkeit der Bestandsaufnahme. Spirituell veranlagte Menschen sehen sicher schnell die Korrelation zwischen den Auswirkungen der Pandemie und den Botschaften der Grenzheiligen Greta: eine Krankheit, die das Pure, Reine, sprich: die Kinder verschont, Flugreisen und Kreuzfahrtbuchungen atomisiert und mit einer alttestamentarischen Wucht das Märchen vom für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum zerplatzen lässt. Ein Bild, das selbstredend auch für Menschen funktioniert, die in der Schwedin eher so etwas wie eine Art Öko-Carrie sehen - Hallo, Domian! -, die in einem globalen Showdown die verdammten alten, weißen Männer als Risikogruppe Nummer eins vom Erdball fegt. K.o., Boomer. Und hey, die Luft in China war lange nicht so gut! So weit, so emmerich. Armageddon mal beiseite:
Es ist eine Gelegenheit zur Inventur. So weist die derzeitige Situation recht schonungslos darauf hin, dass man Krankenhäuser nicht wie Wirtschaftsunternehmen führen kann. Der Controller wird im Falle einer solchen Bedrohung schnell zum Totengräber, ein Gesundheitssystem, das lange auf Sicht gefahren ist, gerät zügiger an seine Grenzen als die Viren. Man kann auch daraus lernen. "Die können, wenn sie wollen" ist ein wahrer Satz. Viel richtiger aber noch ist "die können, wenn sie müssen."
Unternehmen sind gezwungen, sich auf das Wesentliche zu besinnen
In Zeiten, in denen das große Quarantäne-Q wie eine dunkle Wolke am Himmel hängt, sehen Unternehmen sich gezwungen, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Welches Meeting muss wirklich sein? Ist dieser Flug nötig? Wessen körperliche Präsenz im Laden ist unabdingbar? Steht mehr Homeoffice der Mitarbeiter im Widerspruch zur Produktivität? Ist Anwesenheitspflicht höher einzustufen als ein gutes Ergebnis? Und wieso eigentlich noch mit kontaminierten Münzen und Scheinen zahlen, wenn es Karten gibt?
Sicherlich gibt es ausreichend Grund, nervös zu sein, niedergeschlagen, gefrustet. Frag nach bei Hoteliers, Gastronomen, Messebauern, Veranstaltern. Von Risikopatienten, Toten und deren Angehörigen mal abgesehen. Es zählt auch zu den großen Unverschämtheiten, dass man für den Virus nicht einmal den Rücktritt des Verursachers fordern kann. Der Deutsche will zunächst immer einmal die Schuldfrage geklärt wissen. Ich für meinen Teil frage mich ebenfalls, was am Ende schlimmer einkracht: mein PH-Wert, mein Aktienpaket zur Altersvorsorge – oder doch mein Lungenflügel?
Corona-Krise als Reset-Button
Ich zucke mit einer gehörigen Portion Fatalismus mit den Schultern, wasche mir die Hände und lecke vielleicht nicht an jedem Rolltreppen-Handlauf. In Kaufhäusern, von deren Besuch ich erst einmal absehe. Außer abwarten und keine Ommas im Aldi für ne Flasche Sterilium schubsen bleibt mir kaum etwas übrig. Zwei Wochen zuhause bleiben, Essen bestellen und Netflix gucken – das ist nicht für jeden der klassische Ausnahmezustand. Ja, die Jobs, die mir wegbrechen, tun mir finanziell weh - aber sie geben mir die Gelegenheit, ein wenig von der Ruhe zu finden, die ich mir im gut geölten Hamsterrad niemals freiwillig genommen hätte.
Andere brauchen schon einen ungleich heftigeren gesundheitlichen Einschlag, um zu Momenten der Besinnung zu gelangen. Freuen wir uns doch, wenn bereits die Vermutung einer Infektion ausreicht, um Dinge zu streichen, die unseren wöchentlichen Stundenplan so ausgefüllt haben, dass für persönliche Freiheit kein Platz mehr bleibt. Nehmen wir das Unheil wahr als Reset-Button. Wer erst einmal richtig viel Kohle verloren hat, legt nicht mehr alles an wie blöde, setzt auf unbedingte Geldvermehrung - sondern gönnt sich etwas Schönes.

Wo kein Betrieb, da keine Blindheit
Gerade wir Deutschen als traditionell Überversicherte können diesen Einschlag ganz gut gebrauchen, festzustellen, dass es eben keine absolute Sicherheit gibt. Unsere tiefe Sehnsucht nach Planbarkeit erfährt endlich Heilung. Lernen wir endlich, kurzfristig zu denken! Gönn dir! Und ja, auch DU bist verzichtbar.
Zu wie vielen Events sind wir stumpf getigert, weil wir es mit uns selbst nicht ausgehalten haben. Wer wegen Geisterspielen aus einer stockholmsyndromartigen Wochenendroutine gerissen wird, zu jedem Heim- oder Auswärtsspiel zu pilgern, um sich seit Jahren absolut trostlosen Kackfußball anzusehen, lernt plötzlich wieder seine Familie kennen. Also, die Verwandten, die er unter der Woche kaum sieht, weil er auf der Arbeit ja unersetzlich ist. Und warten wir erstmal ab, was geschieht, wenn man plötzlich noch zum Homeschool-Teacher wird, weil die Schulen dicht sind. Gemeinsames Scheitern bei Matheaufgaben verbindet. Lernen wir, das disruptive Element dieses Szenarios zu schätzen!
Wo kein Betrieb, da keine Blindheit. Der Kollaps ist auch eine Form der Entschleunigung. Lass dich küssen, Virus!
P.S.: Schade, dass wir die Früchte dieser Erkenntnisse nicht mehr werden genießen können – wir werden natürlich alle sterben.