Am 3. März kippte es. Das war der Tag, an dem ich zum Wutbürger geworden bin. Und die Kanzlerin höchstselbst hat mich radikalisiert. Immerhin habe ich ein Jahr tapfer durchgehalten, ohne groß zu murren. Das allerdings ändert sich gerade.
Die Epidemie feiert hierzulande ein Jahr Geburtstag. Natürlich ohne Kerzen auspusten wegen der Aerosole. Groß feiern ist auch nicht, weil es halt immer noch diese Kontaktbeschränkungen gibt. Die im Zuge des letzten Bund- und Ländergipfels leicht gelockert wurden. In einem Rahmen allerdings, in dem die meisten Bürger vermutlich gesagt haben werden: "Ja, danke. So halten wir es privat schon seit Wochen."
Am Mittwoch präsentierte man uns nach rund zehn Stunden Sitzung ein Papier, dessen Komplexität irgendwo zwischen Falk-Plan Jugoslawien 1988 und Da-Vinci-Code liegen dürfte. Niemand weiß mehr irgendwas, und womöglich ist es ja genau das, was man damit erreichen will.
Deutschland macht also ein bisschen auf – und das auf Grundlage von Infektionszahlen, bei denen man im Oktober letzten Jahres noch panisch die Türen und Fenster zugemacht hatte. Markus Söder nennt das die "atmende Öffnungsmatrix", und das verrät mehr über den bayerischen Konjunktiv-Kanzler, der mittlerweile vorrangig damit beschäftigt zu sein scheint, sich zitierfähige Sätze und Neologismen auszudenken, als über das Konzept dahinter.
Mit den bedeutungsschwangeren Sinnsprüchen des Weißwurst-Churchill kann man sich Kissen besticken oder die Wände von Provinz-Cafés bepinseln. "Atmende Öffnungsmatrix" – ich kenne Proktologen, die befassen sich hauptberuflich mit sowas. "Kein Konzept" wird nicht besser dadurch, dass man es cool benennt.
Die Bundesregierung ballert gerade mit 160 Sachen auf die gelbe Ampel zu
Im Kern geht es darum, sich von der Sehnsuchtszahl 35 zu verabschieden, bei Inzidenzen unter 50 zu lockern und das selbst zwischen 50 und 100 für Kultur- und Sportstätten oder den Einzelhandel – gesetzt den Fall, dass man einen Termin gemacht hat und einen negativen Test vorlegen kann. Erreicht die Inzidenzzahl den kritischen Wert von 100, greift die "Notbremse" –und das dürfte ziemlich genau in drei Wochen der Fall sein.
Die Bundesregierung ballert gerade mit 160 Sachen auf die gelbe Ampel zu und wird total überrascht in die Eisen gehen, wenn die auf Rot springt. Möglicherweise ist es aber auch keine Ampel, sondern schlicht: eine Mauer.
Es ist zum Heulen. Nicht für die Kanzlerin, die in ihrer ganz eigenen Art der ernüchterten Euphorie sagt: "Der Frühling im Jahr 2021 ist ein anderer als vor einem Jahr." Und damit hat sie natürlich recht. Es ist ein schlechterer.
Denn das, was im März 2020 richtig war, ist im März 2021 nur noch komplett hilflos. Dichtmachen als Dauerlösung. Schönes Wetter als Langzeitstrategie. Und Öffnen, wenn es die Infektionslage am wenigsten hergibt. Ja, jeder will Lockerungen. Nein, niemand will Lockerungen, wenn es keine Form der Absicherung gibt.
Womöglich hätte die Bevölkerung einen weiteren, härteren Shutdown für die nächsten drei Wochen sogar murrend mitgetragen, wäre ersichtlich gewesen, dass zu dem Zeitpunkt der Verkündung die Maschinen bereits auf Hochtouren laufen. Stattdessen zerschießen wir uns gerade fahrlässig die Zahlen, während auf oberster Ebene ein großes "Ja, da müssen wir jetzt mal gucken, dass das Ende des Monats losgeht" herrscht.
Man kündigt also eine "breite und monatelange Teststrategie an, die die geplanten Lockerungen absichern soll" – aber die Grundlage dieser Strategie, die Test, kommen erst im April. Gelockert wird aber schon jetzt.
In anderen Ländern wird man beim Warten auf die Pommes geimpft
Von den Impfungen und deren Terminierungskonzept ganz zu schweigen. Manch einer ist während des Wartens schon von Impfgruppe 2 in Impfgruppe 1 gerutscht, während man in anderen Ländern gefühlt schon beim Warten auf die Pommes kurz weggeimpft wird.
Zumindest die Ministerpräsidenten von Aldi Nord und Aldi Süd haben ihren Job gemacht – dort kann man ab Samstag Selbsttests kaufen, um zumindest einigermaßen sicher sachte ins Sozialleben zurückzufinden. Von einem sicheren medizinischen Fundament ist das natürlich auch so weit entfernt wie wir von der Durchimpfung.
Und um den Rest soll sich jetzt die "Taskforce Testlogistik" kümmern, bestehend aus: Jens Spahn und – bitte lachen Sie nicht – Andreas Scheuer. Jetzt will man uns also auch noch verspotten. Beim Stand von 1 zu 4 wechselt Angela Merkel als Stürmer für das Team Deutschland den Busfahrer mit der Fahne ein. Das beruhigendste Duo seit Freddy und Jason. Oder Cheech und Chong. Suchen Sie es sich aus.
Man kann es nur als Boshaftigkeit von Angela Merkel deuten, dass sie Ikarus Spahn öffentlich ausgerechnet Andreas Scheuer an die Seite stellt, um es endlich hinzubekommen. Zumindest dazu ist sie noch fähig, wirkt sie ansonsten auch wie jemand, der längst kapituliert hat. Ob vor dem Virus oder den Vertreter*innen der Länder – wer vermag das schon zu sagen. Vermutlich haben wir Dank der Stromberg-Twins in drei Wochen dann 150 Millionen Q-Tips irgendwo im Hangar stehen.
Ich bin wirklich verzweifelt, mitanzusehen, wie Dinge entweder verschlampt, verbummelt, falsch eingeschätzt oder zu Tode geprüft werden. Bürokratie als Selbststrangulierungsinstrument. Dagegen wirkt der BER fast wie ein Musterprojekt.
Mir ist es auch gleich, wer wo wie und wann in dieser großen Verantwortungsdiffusion seinen Job nicht gemacht hat. Für mich ist das alles zwischen Kanzlerin, Ministern und Ministerpräsident*innen ein großer Sardinenschwarm des Versagens, der sich zu einem gewaltigen, ja, was ist es eigentlich, flossenlahmen Buckelwal ausformt.
Eine Eingreiftruppe, bestehend aus denen, die nichts mehr wollen oder nichts mehr können. Oder, um es anders zu sagen: Wäre Deutschland die Titanic, hätte man vor dem Verlassen des Schiffs noch sechs Arbeitskreise gegründet, durch vier Gremien die Wassertemperatur prüfen lassen, in Ruhe zwölf verschiedene Rettungsgruppen zusammen klassifiziert – und beim Sprung von Bord festgestellt, dass Jens Spahn vergessen hat, die Rettungsboote zu bestellen. Absaufen – aber geordnet.
Und dass sogar dieses abgeschmackte Titanic-Gleichnis vergleichsweise frisch daherkommt, sagt auch viel über die Bräsigkeit des Pandemiemanagements aus.