Wichtig ist, was hinten rauskommt. Das wusste Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl schon 1984. Seine Binsenweisheit wird 28 Jahre später für die Kandidaten von "Unser Star für Baku" zur bitteren Erkenntnis. Da glaubt sich die schwäbische Lady Gaga, Vera Reissmüller, als Publikumsliebling stundenlang auf der sicheren Seite, um dann in den letzten Sekunden doch noch zu scheitern. Wer schuld daran ist? Die Zuschauer vielleicht. Die Jury bestimmt. Aber vor allem eine nervöse Blitztabelle, die erbarmungsloser zuschlägt, als die deutsche Nationalmannschaft beim Elfmeterschießen.
Am Donnerstagabend um kurz vor 23 Uhr war der Traum von Baku für fünf weitere Kandidaten ausgeträumt. Nach der ersten Show in der vergangenen Woche waren dieses Mal zehn weitere Sänger angetreten, um Deutschland am 26. Mai beim Eurovision Song Contest in Aserbaidschan vertreten zu dürfen. Doch die Suche nach "Unserem Star für Baku" geriet für die sechs Frauen und vier Männer zur Zitter-, und für die Zuschauer zu Hause zur Hängepartie. Denn die anspruchsvollste Castingshow im deutschen Fernsehen war über weite Teile so wenig unterhaltsam anzugucken wie Martin Kesici beim Dauerschlaf im australischen Dschungel.
Vera, die Lady Gaga von der Alb
Dabei beginnt die Sendung mit einem schwäbischen Knallbonbon: "Servus, i bin d' Vera aus Schwäbisch Gmünd. Und ja, i schwätz schwäbisch. Un' wenn i net grad schwäbisch schwätz, sing i beim Hofbräuregiment." Vera Reissmüller kann scheinbar alles, außer Hochdeutsch. Sie ist die Siegerin der Sympathiewertung, bei der die Televoter die Startreihenfolge festlegen. Derjenige mit den wenigsten Stimmen beginnt, wer die meisten Stimmen hat, darf zum Schluss ran.
Eine Reihenfolge, die zur langen Durststrecke wird. Andrew Fischer kann mit seiner Version von Eric Claptons "Tears in Heaven" ebenso wenig überzeugen wie Polly Zeiler mit dem Bruno-Mars-Hit "Grenade". Zwar schlägt die Blitztabelle aus und die Jury ist bemüht, das Positive der Vorträge in den Vordergrund zu stellen ("Du hast sehr viel richtig gemacht"), aber schnell ist klar: die beiden Interpreten sind keine Konkurrenz für die anderen acht. Das sieht bei Sebastian Dey, der "This Love" von Maroon 5 singt, schon anders aus. "Bei dir möchte ich gerne Opa sein", sagt Stefan Raab zu dem Altenpfleger aus Oberhausen. In die "Wellness-Oase" entführt dann Jörg Müller-Lornsen die Jury. Der Lübecker mit dem Schlafzimmerblick singt den Stereophonics-Song "Maybe Tomorrow". "Ich bin jetzt echt total entspannt", sagt Stefan Raab - der ein oder andere Zuschauer kurz vorm Eindösen.
Ein Star für Baku ist weit und breit nicht in Sicht
Die Talentsuche plätschert vor sich hin, bis Ornella de Santis aus Offenburg mit ihren schwarzen langen Haaren und einer "enormen Kontrolle auf Stimme und Vibrato" (Stefan Raab) zumindest eine kleine Woge der Begeisterung entfachen kann. Ihr Song "Slow Motion" von Karina Pasian bekommt Szenenapplaus. Trotzdem fällt die Halbzeit ernüchternd aus. Ein Star für Baku ist weit und breit nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Suche zieht sich wie ein Liederabend im Altenheim - Blitz hin oder her.
Die Raab-Erfindung Echtzeittabelle wird während der Auftritte vorhersehbar. Wer singt, steigt im Ranking. Das ergeht Soul-Sängerin Rachel Scharnberg mit "My Baby left me" von Rox ebenso wie Tina Sander mit ihrer gewöhnungsbedürftigen Version von Aura Diones "Geronimo" und Umut Anil, der "Straight up" von Paula Abdul zum Besten gibt. Sofort auf eins steigt Yana Gercke, die Schwester von Topmodel-Gewinnerin Lena Gercke. Sie singt "Price Tag" von Jessie J., "packt dabei die Lady aus" (Jurorin Alina Süggeler) und überzeugt Jury und Publikum gleichermaßen.
Die Blitztabelle zuckt chaotisch
Zwei Stunden sind bereits vergangen, als endlich Publikumsliebling Vera Reissmüller singt. Mit Zungenpiercing und Knopf im Kinn rockt sie mit "Fooled me again" von Lady Gaga das Kölner Studio. "Supa isch gar koi Ausdruck dafür", lobt Jurypräsident Thomas D und Stefan Raab wundert sich: "Du kannst kein Hochdeutsch, aber Englisch kannst du, das ist die eigentliche Sensation." Sowohl Jury als auch Publikum wähnen Vera, die zu diesem Zeitpunkt führt, sicher unter den ersten fünf. Doch dann nimmt das Blitztabellen-Chaos seinen Lauf.
"Wer gehört nicht in den Keller?", fragt Steven Gätjen die Jury. "Rachel", sagt Thomas D. und die Tabelle fängt an zu zucken wie die Aktienkurse einer griechischen Bank vor dem nächsten Stresstest. In der letzten Abstimmungsminute wird das Ranking komplett auf den Kopf gestellt. Und Vera, die schwäbische Rampensau, rutscht gefährlich weit nach unten.
Diese fünf Kandidaten sind weiter
1. Rachel Scharnberg, 22, aus Köln 2. Yana Gerke, 19, aus Biedenkopf 3. Sebastian Dey, 32, aus Oberhausen
4. Umut Anil, 21, aus Bielefeld
5. Ornella de Santis, 22, aus Offenburg
Raab: "Es tut mir leid, was ich da angerichtet habe"
"Ich bin stinksauer", sagt Thomas D hinterher. Und im Glauben, sein Mikrofon wäre bereits abgeschaltet, sagt Stefan Raab: "Es tut mir leid, was ich da angerichtet hab' mit der Tabelle." Vera hat es nicht geschafft. Mit ihrem Scheitern wächst die Erkenntnis, dass die Blitztabelle ein Experiment ist. Vielleicht sogar eines, das falsche Ergebnisse liefert. Denn offenbar wiegt sich die Mehrheit der Fans zu sehr in Sicherheit, sobald ihr Kandidat vorn liegt. Sie stellen die Anrufe ein und die folgenden Ränge rücken gefährlich schnell auf. Die Blitztabelle wird damit so unberechenbar wie der "Hot Button" bei Anrufshows.
Noch ist das halb so schlimm. Mit Vera ist zwar ein Publikumsliebling auf der Strecke geblieben, aber keine ernsthafte Anwärterin auf das Ticket nach Baku. Das könnte nächste Woche, wenn die jeweils beliebtesten fünf der beiden ersten Shows aufeinander treffen, schon anders werden. Dann ist auch wieder Roman Lob am Start, der bislang aussichtsreichte Kandidat auf die Nachfolge von Lena Meyer-Landrut. Dann ist umso wichtiger, was hinten raus kommt.