Sie lächelt so glücklich, als hätte sie eben ihr Abitur bestanden: Jamie-Lee Kriewitz steht in der Globe Arena in Stockholm auf der Bühne. Gerade hat sie ihre zweite Probe absolviert - und dieses Mal lief alles nach Plan. Die Änderungswünsche der deutschen Delegation an der Bühnenshow wurden umgesetzt. Der Mond im Hintergrund wirkt viel größer als noch bei der ersten Probe am Samstag, die Blätter der Kirschbäume wehen als Hologramm, und Kriewitz gelingt der Flirt mit der Kamera. Im Pressezentrum von Stockholm sind sich viele einig: Gut gemacht, Jamie-Lee.
Schlechte Bewertungen für Jamie-Lee
Trotzdem werden der 18-jährigen Sängerin aus Springe bei Hannover beim Finale des Eurovision Song Contest am kommenden Samstag nur wenige bis gar keine Chancen auf den Sieg zugetraut. Bei britischen Buchmachern liegt sie abgeschlagen auf einem hinteren Mittelplatz. Auch die Einschätzungen von ausländischen Journalisten geben wenig Anlass zur Hoffnung. "Ich glaube, Deutschland wird wieder ganz unten landen", sagt William Lee Adams vom Eurovisions-Blog "Wiwibloggs". Mit dieser Meinung steht er nicht allein da.
Doch warum wird Jamie-Lee trotz guter Leistung so schlecht bewertet? Dafür gibt es drei Gründe:
1. Der Song
"Ghost" ist eine solide Popnummer. Doch alles in allem scheint das Lied für diesen Wettbewerb zu schwach. Ohne richtigen Höhepunkt plätschert es vor sich hin, bietet am Ende wenig Überraschung. Die deutschen Zuschauer haben im Vorentscheid zwar dafür angerufen, doch danach wurde "Ghost" auch in der Heimat kein Charterfolg. Keine guten Voraussetzungen für einen ESC-Sieg. "Langweilig" lautet die meistgehörte Meinung unter internationalen Journalisten hier in Stockholm. Da mag Jamie-Lee noch so gut singen und noch so süß in die Kamera lächeln.
2. Starke Konkurrenz
Kein singender Truthahn, keine lächerlichen Trickkleider, keine Totalausfälle: Der Eurovision Song Contest ist längst nicht mehr der Spaßwettbewerb, der er noch in den 90er Jahren war. Der ESC ist seriöser und professioneller geworden. Wir werden am kommenden Samstagabend viele gute Songs zu hören bekommen. Gab es früher oft einen klaren Favoriten, können sich gleich mehrere Teilnehmer Hoffnung auf einen Sieg machen: Russland, Frankreich, Ukraine oder Schweden zum Beispiel. Die Konkurrenz ist stärker geworden und hat aufgerüstet. Russland, so munkelt man, soll einen zweistelligen Millionenbetrag in seinen Auftritt investiert haben.
3. Keine neue Lena
Sie singt verdammt gut, kleidet sich verrückt und ist sympathisch: Trotzdem ist Jamie-Lee Kriewitz keine neue Lena. Fast schüchtern wirkt sie auf der Pressekonferenz nach der Probe am Sonntag, fühlt sich bei so viel Aufmerksamkeit unwohl. Das wäre Rampensau Lena nie passiert. Meyer-Landrut liebte solche Momente und machte ihre Presseauftritte zur unvergesslichen Lena-Schau. Das ist nicht Jamie-Lees Ding. Das ist in Ordnung, hilft aber nicht, um international Aufmerksamkeit zu bekommen.

Hoffnung?
Gibt es trotzdem Hoffnung? Ja, die gibt es. Wenn schon nicht auf den Sieg, dann durchaus auf eine Top-Ten-Platzierung. Da sind zum einen die Jurys. Fünfzig Prozent des Ergebnisses kommt nicht von den Zuschauern, sondern von vorab bestimmten Wertungsrichtern. Ihnen dürfte die hohe gesangliche Qualität von Jamie-Lee das ein oder andere Pünktchen wert sein. Außerdem bleibt Jamie-Lee noch eine Woche Zeit, Fans in ganz Europa von sich zu überzeugen. Sie ist die süßeste Schülerin dieses Wettbewerbs - und der ESC ihre Reifeprüfung.