Herr Niedecken, Sie sind seit Jahrzehnten ein Fan von Bruce Springsteens Musik. Was hat Sie daran begeistert?
Ich bin verhältnismäßig spät auf Springsteen gekommen. Erst Anfang der 80er Jahre, als wir am Bap-Album "für usszeschnigge" gearbeitet haben, kam unser damaliger Gitarrist mit zwei Springsteen-Platten an und sagte: 'Hör dir den mal an, der ist so ähnlich wie dein Dylan, nur geiler'. Ein unglaublicher Satz! Den hab ich ja fast als Majestätsbeleidigung aufgefasst. Die Alben waren "Born to Run" und "Darkness at the Edge of Town". Bis dahin hatte ich Springsteen nur peripher wahrgenommen. Mit den beiden Alben hat sich bei mir alles geändert. Ich hab die Texte analysiert und die Alben ein Jahr lang pausenlos im Auto gehört.
Sie sind auch mit Bruce Springsteen befreundet. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Von der ARD kam 1995 die Anfrage, ob ich nicht Lust hätte, nach New York zu fliegen und Springsteen zu interviewen. Bei der Gelegenheit haben wir uns angefreundet.
Es gibt viele Parallelen zwischen Ihnen und Springsteen: Sie sind fast der gleiche Geburtsjahrgang, haben die gleichen musikalischen Vorbilder, engagieren sich beide politisch. Hatten Sie das Gefühl, einen Seelenverwandten getroffen zu haben?
Irgendwas in der Art ist auf jeden Fall da. Wir kommen auch beide aus der gleichen Schicht: irgendwo zwischen Proletariat und Mittelschicht. Er ist sich seiner Wurzeln sehr bewusst, legt auch großen Wert darauf, nicht zu vergessen, wo er herkommt. Wir haben zudem die gleichen Helden. Wir sind beide aufgewachsen mit Beatles, Stones und Dylan. Bei Springsteen kommt noch Blues und Soul dazu, weil er Amerikaner ist. Wenn wir uns treffen, reden wir erstmal über alles, was unsere Helden in letzter Zeit gemacht haben. Da sitzen zwei Kerle, die selber Musik machen, unterhalten sich aber erstmal über das letzte Dylan-Album, über die letzte Stones-Tour. Und Bruce Springsteen schwärmt davon, dass er mal bei den Stones im Studio war, das muss man sich mal vorstellen! Er kann noch immer Fan sein. Die Begeisterung ist ihm nie abhanden gekommen. Das ist ganz wichtig. Er ist ein leidenschaftlicher Musiker.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat ein Fan zu Springsteen gesagt: "Boss, wir brauchen dich". Können Sie sich erklären, wie ein Musiker eine solch große Bedeutung für das Seelenheil von anderen Menschen haben kann?
Das ist etwas sehr Wohltuendes, wenn Leute zu einem kommen und diese Bestätigung geben. Springsteen hat es offensichtlich geschafft, den Leuten das Gefühl zu geben, dass er einer von ihnen ist. Er leidet mit ihnen und versteht, was in den Amerikanern nach 9/11 vorgeht. Vor allen Dingen ist er in der Lage, den Menschen Hoffnung zu geben.
Wie schafft er das?
Genau genommen schreibt er, wie alle Songwriter, immer denselben Song of Hope. Aber er hat es geschafft, ihn immer kompakter zu schreiben, immer mehr Überflüssiges wegzulassen. Das Thema ist der amerikanische Mythos, der immer wieder neu formuliert wird: "Wir können". Ihm sind die Werte nicht abhanden gekommen. Bei ihm ist es nicht nur "Go West" und "Wir machen alles platt". Bruce hält dabei die Werte hoch, die Amerika anscheinend abhanden gekommen sind. Bruce Springsteen hat sich politisch für die Demokraten engagiert, auf die Gefahr hin, dass er einen Teil seines eher konservativen Publikums verschrecken würde, aber nach zweimal vier Jahren George W. Bush konnte er einfach nicht anders.
Bruce Springsteen setzt seinen Reichtum also nicht dazu ein, ein wahnsinnig luxuriöses Leben zu führen?
Er lebt ja das Leben, von dem er immer geträumt hat. Man steht ja nicht in der Pflicht, sich teure Klamotten zu kaufen oder Autos, auf die man nicht steht. Sein bescheidenes Auftreten ist übrigens auch kein Styling, dahinter steht kein Konzept. Der steht wirklich auf nichts anderes. Status-Symbole bedeuten ihm gar nichts.
Sie haben ein komplettes Album veröffentlicht, auf dem Sie Songs von Bob Dylan ins Deutsche übersetzt haben. Warum nicht von Bruce Springsteen?
Es gibt eine kölsche Fassung von "Hungry Heart". Ein ganzes Album mit Springsteen-Songs zu machen ist was anderes als ein Album mit Dylan-Songs. Bob Dylan hat keine zwei Mal ein und denselben Song in der gleichen Version gespielt. Die Songs bestehen aus einer Gesangsmelodie, dem Text und einigen Grundharmonien. Die stehen für andere Arrangements einfach zur Verfügung. Bei einem Stones-Song oder einem Springsteen-Song kann man davon ausgehen, dass man das Arrangement der Originalfassung sowieso nicht toppen kann.
Was wünschen Sie Bruce Springsteen zum 60. Geburtstag?
Gesundheit, Zuversicht und Gelassenheit. Als Künstler wünsche ich ihm, dass seine Leidenschaft niemals versiegt, dass er immer der leidenschaftliche Singer-Songwriter bleibt, der er für mich schon seit vier Jahrzehnten ist. In dieser Beziehung ist er ein absolutes Vorbild. Und er hat das Album geschafften, das ich einem Marsmenschen geben würde, der auf die Erde käme und wissen wollte, was Rock'n'Roll ist: "Born to Run".
Ich glaube wirklich, dass Bruce Springsteen sehr mit sich im Reinen ist. Dass er sehr ausgefüllt ist mit dem, was er tut. Er steht als Künstler nach jeder Tournee wieder an dem Punkt, dass er seinen Song of Hope ein weiteres Mal neu formulieren muss. Aber er freut sich darauf, er ist ein glücklicher Sisyphos. Er ist froh, dass er seinen Felsen hat. Wenn man aufhört sich zu freuen, welche tollen Gitarren man spielen darf, wenn man aufhört sich zu freuen, dass man durch die Gegend fahren darf und für die Leute spielt, die die eigene Musik mögen: Wenn man dieses Gefühl verliert, dann ist es vorbei. Und das wird bei ihm niemals passieren.