Herr Professor Haller, der ZDF-Mehrteiler "Am Ende – Die Macht der Kränkung" erzählt, wie Menschen aufgrund narzisstischer Kränkungen verstört und nach und nach zu lebenden Zeitbomben werden. Die Serie basiert auf Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Wie realistisch ist das denn?
Es sind oft Kleinigkeiten, die man als Außenstehender gar nicht als Kränkungen auffassen würde, die aber unheimlich viel auslösen und auf Schicksale fatale Auswirkungen haben. Das Phänomen ist leider maßlos verdrängt und tabuisiert worden. Niemand gibt gerne zu, dass er sich von Kinkerlitzchen maßlos irritieren lässt. Die Macht der Kränkung ist eine ganze Norm, gesellschaftliche Probleme bis hin zu Kriegen werden dadurch ausgelöst. Die Wissenschaft hat sich damit kaum beschäftigt, auch mein Fach nicht. In meiner Ausbildung habe ich den Ausdruck gar nicht gehört.
Wie kann es sein, dass es dazu kaum Forschung gibt?
Es gibt nicht einmal einen Fachbegriff dafür, das geht so weit, dass die Kränkung in den allgemeinen Diagnosekatalogen nie aufgenommen wurde. Die Bibeln der Medizin, die jeden Schmerz verzeichnen, ignorieren die Kränkung. Ich muss selbstkritisch hinzufügen, dass auch ich mich selbst erst spät damit auseinandergesetzt habe. Und erst durch einen großen Kriminalfall darauf gestoßen wurde.

Jener bekannte Kriminalfall ist der des Attentäters Franz Fuchs, der mittels Briefbomben in den 90ern Österreich terrorisierte. Zahlreiche Politiker bekamen die explosive Post, den damaligen Wiener Bürgermeister Helmut Zilk kostete der Anschlag die Hand.
Damals hat man vermutet, dass die Ursache dieses Verbrechens Rechtsradikalismus sei. Alles hatte dafür gesprochen, aber in Wirklichkeit war es das Fanal eines gekränkten selbsternannten Genies. Er war auf pathologische Weise kränkbar und hat fatale Konsequenzen gezogen. Viele Amokläufer sind nicht ideologisch getrieben, sondern agieren aufgrund von Kränkungen. Schon Hildegard von Bingen hat gesagt: Was kränkt macht krank. Sie hat im 12. Jahrhundert die Grundlagen für psychosomatische Medizin gelegt, wonach bei vielen körperlichen Krankheiten die Ursache im Psychischen liegt.
Narzisstische Führer sind sehr leicht zu kränken
Mit Verlaub, ist es nicht etwas einfach, Attentate und sogar Kriege auf jene Macht der Kränkung runterzurechnen?
Ich glaube nicht. Natürlich kommen unheimlich viele Aspekte hinzu, aber beim Ersten wie beim Zweiten Weltkrieg spielen Kränkungen eine auffällige Rolle, auch beim Überfall Russlands auf die Ukraine ist das so. Narzisstische Führer sind sehr leicht zu kränken. Aber keine Frage, es gibt viele Gründe. Kränkungen sind oft nur der letzte Auslöser – eine Hypothese, die mir viele Historiker bestätigen. Hitler war wie alle Schwerverbrecher selbst ein großer Psychologe, hat aber selbst auffällig viele Kränkungen erlebt. Er war als Künstler unerfolgreich, hatte nie eine Freundin, jahrelang kein Dach über dem Kopf, insofern wusste er von der Macht der Kränkungen und auch, wie man sie einsetzt. Er spricht es in seinen Reden an: Nie habe ein Volk so große Demütigungen erlebt wie das deutsche. Das hören wir auch heute bei den Russen. Bitte verstehen Sie das nicht falsch, es geht nie darum, etwas zu entschuldigen, sondern zu erklären.

Was hat Wladimir Putin aus Ihrer Sicht so sehr gekränkt?
Ich werde seit langem gefragt, ob Putin ein Narzisst ist. Es verbietet sich eigentlich, Ferndiagnosen anzustellen, aber man kann gewisse Züge deuten. Es fällt auf, dass er lange Zeit als zuverlässig und kalkulierbar galt, dann stellen sich Veränderungen ein. Typisch ist, dass er irgendwann beginnt, sich nur noch mit Jubelknechten und Speichelleckern zu umgeben, jede Kritik wird dann zur Majestätsbeleidigung. Ich erinnere mich noch, als Barack Obama, den ich eigentlich für einen klugen Mann halte, Putin öffentlich demütigte. Er sagte, Russland sei nur noch Regionalmacht, es habe nur beschränkte Bedeutung. So etwas hat oft fatale Wirkungen, hier ganz besonders.
Obama ist doch nicht schuld, dass Russland ein Nachbarland überfällt?
Natürlich nicht, wie gesagt, die Kränkung wird oft nur vom Narzissten selbst in diesem Ausmaß empfunden. Es fällt schwer, sich in so eine Person hineinzuversetzen. Man glaubte, Putin zu kennen, man erlebte ihn in der Vergangenheit als lachenden amikalen Mann. Und kann sich schwer vorstellen, dass es so einem plötzlich egal ist, dass alte Menschen flüchten müssen, Kinder sterben, Hunderttausende ihre Heimat verlieren. Und doch ist es typisch für Narzissten, dass sie die Empathie ausschalten, ihre gekränkten Gefühle überlagern alles andere, es zählt nur noch der Hass.
Ausgerechnet Recep Tayyip Erdoğan hat früh darauf hingewiesen, dass man Putin einen Ausweg anbieten müsse, bei dem er sein Gesicht wahren könne.
Ausnahmsweise hat der türkische Präsident, dessen Narzissmus allgemein bekannt ist, da etwas Kluges gesagt. Wir haben bei der Affäre Böhmermann gesehen, wie leicht er selbst kränkbar ist und wegen Kleinigkeiten eine internationale Krise riskiert. Frau Merkel wusste das recht sicher und hat das klug abmoderiert.
Aber ist es dafür nicht längst zu spät, wie soll man einem Massenmörder zugestehen, sein Gesicht zu wahren?
Da haben Sie vermutlich Recht, aber das zu bewerten, ist nicht meine Aufgabe. Man muss nur wissen, wohin es führt. Solange man dem Narzissten signalisiert, dass er unterlegen und zu besiegen ist, wird er weiter eskalieren. So schwer es fallen mag, der Ausweg ist nur dieser: Wir sollten Putin die Möglichkeit geben, sein Gesicht zu wahren.
Sind unsere heutigen Gesellschaften narzisstischer als die früheren?
Sigmund Freud hat 1908 über die narzisstische Störung geschrieben. Ich glaube durchaus, dass die Menschen narzisstischer geworden sind, gleichzeitig gibt es kein Kränkungsbewusstsein.
Nehmen wir noch einmal den ZDF-Mehrteiler "Die Macht der Kränkung" zum Beispiel, wäre ein solches explosives Beziehungsgeflecht auch vor 100 Jahren denkbar gewesen?
Narzissmus an sich muss in Maßen nicht schlecht sein
Vorweg sollte man feststellen, dass nicht jede narzisstische Kränkung pathologisch ist. Narzissmus an sich muss in Maßen nicht schlecht sein, ganz ohne hätten wir kein Selbstwertgefühl. Wie immer wird es problematisch, wenn es zu viel wird. Der Theologe Karl Rahner hat eine großartige Definition geliefert, als er sagte: Narzissmus ist ein Ofen, der nur sich selbst wärmt.
Haben Sie einen Ausweg?
Wir brauchen ein Kränkungsbewusstsein. Alle wollen cool sein, möglichst abgebrüht, aber jeder Mensch ist innerlich sehr verletzlich, jeder hat ein starkes Liebesbedürfnis. Wir sind ständig auf der Jagd nach positiver Resonanz. Sogar die Klimabewegung lässt sich so erklären.

Und zwar?
Junge Menschen fühlen sich gekränkt, dass die Gesellschaft nicht an ihre und kommende Generationen denkt, und reagiert stark angefasst. Auch die Drogen, die heute beliebt sind als Ecstasy und MDMA, deuten auf ein starkes Bedürfnis hin, sich mit anderen zu verbinden, ein Liebesgefühl wahrzunehmen.
Sie forschen mit Kriminellen, hat sich auch da etwas verändert?
Kränkungsdelikte sind stark im Kommen. Schauen Sie sich die vielen Frauenmorde an. Ich habe 37 Frauenmörder ausführlich untersucht und lange Gespräche geführt. Wenn man da rauskommt, hat man als Gutachter das Gefühl, ausschließlich mit Opfern gesprochen zu haben. Die reden nur davon, was ihnen angetan wurde, es geht um Zurückweisung und Liebesentzug. Die Reaktionen sind dramatisch und natürlich in keinem Verhältnis, das sehen diese Männer aber nicht.
Die Kriminellen, die Sie untersucht haben, sind sehr unterschiedlich. Da ist der Briefbombenattentäter Franz Fuchs, der schillernde Frauenmörder Jack Unterweger, mehrere NS-Täter. Gibt es Parallelen zwischen diesen Tätern?
Ja, da sind viele Parallelen, einander ähnelnde Persönlichkeitsstörungen. Süchte gehören zu den wichtigsten Kriminalitätsfaktoren, weil sie zu Enthemmungen führen, die befördern, dass sich das Böse entäußert. Das Auffallende ist, dass Straftaten zunehmend motivärmer werden. Das sagen alle Kriminologen, es kommt aus den kleinsten und nichtigsten Motiven zu schweren und immer brutaleren Straftaten. Ich sehe da den Ausdruck der Urangst, nicht anerkannt und nicht gemocht zu werden.
Wie sollte die Gesellschaft auf dieses Phänomen reagieren?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Unser derzeitiges Justizsystem ist schon lange veraltet, man wird uns in 200 Jahren für primitiv halten, weil wir noch einsperren und verurteilen, obwohl eigentlich fast alle in einer Therapie besser aufgehoben wären. Aber das ist utopisch, ich verstehe, dass das nicht geht, die Hinterbliebenen haben Sühnebedürfnisse, die nachzuvollziehen sind. Das Gerechtigkeitsgefühl muss bedient werden, der Mensch will Sühne oder gar Rache.
Im 19. Jahrhundert gab es eine Ehrenordnung unter Offizieren, die heute bei schlagenden Verbindungen noch teilweise existiert. Hatten diese antiquierten Regularien auch Vorteile?
Die Meinungsfreiheit steht heute über dem Ehrbegriff
Sie sprechen da eine wichtige Sache an, denn der Umgang mit Ehrbegriffen ist in der westlichen Gesellschaft abhanden gekommen. Man muss kein Duell machen, aber wie Sie im Falle der Grünenpolitikerin Renate Künast sehen konnten, wird es nicht geahndet, wenn jemand widerlich beleidigt worden ist. Die Meinungsfreiheit steht heute über dem Ehrbegriff. Man zwingt die Menschen dazu, so etwas hinzunehmen, die Kränkung bleibt. Hinzu kommen Einwanderer, die aus anderen Kulturen mit anderen Ehrbegriffen kommen, die damit große Probleme haben.
Gäbe es eine zeitgemäße Form des Ehrbegriffs?
Ich hatte bereits vom Kränkungsbewusstsein gesprochen, was bedeutet, dass wir alle mehr zu verstehen versuchen, was andere verletzt. So ließe sich viel Unheil verhindern. Wir brauchen etwas, das ich als "Rechthäutigkeit" bezeichnen würde, weder dünn- noch dickhäutig zu sein, sondern ein gesundes Gleichgewicht zu entwickeln. Stephen Hawking hat gesagt, dass das Überleben der Menschheit nicht davon anhängen würde, ob wir in den Weltraum vorstoßen, sondern ob wir unsere Empathie retten. Das ist etwas, das Roboter und die KI nie übernehmen werden.
Wie lässt sich Empathie trainieren?
Wir alle erleben ständig Kränkungen, Sie, ich, Ihre Leser und Leserinnen, es gehört dazu, das wegzustecken, gelassen zu reagieren. Gleichzeitig müssen wir versuchen, sensibel zu bleiben. Unsere Gesellschaft muss das Thema ernster nehmen, aber die sozialen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger. Schauen Sie in die Kommentarspalten, da wird permanent gegenseitig beleidigt, gekränkt, gehasst. Der Optimierungszwang, den wir erleben, ist auch nicht gerade förderlich. Ist mein Bizeps groß genug, habe ich die vom Smartphone empfohlene Joggingstrecke geschafft, ist mein Blutzuckerspiegel ideal? Und das ist natürlich fast nie der Fall, wir erleben dysmorphe Versagensängste, Depressivität.
Wie kommen wir da bloß raus?
Mehr Mitleid, mehr Empathie, auch Menschen, deren Ansichten und Lebensmodelle wir nicht teilen, mit mehr Respekt zu begegnen.
Wie gehen Sie selbst damit um, wenn Sie gekränkt werden?
Es ist mein Lebensziel, gelassener zu werden, ich bin aber selbst nicht angekommen. Ich bemühe mich, das ernst zu nehmen, wenn ich das Gefühl habe, gekränkt worden zu sein oder vielleicht selbst Kränkungen verursacht habe. Es ist eine Gratwanderung, die jeder Mensch kennt, und die schwer zu meistern ist. Aber es gibt Hoffnung, solange wir es versuchen.
"Am Ende – Die Macht der Kränkung" ist ab 5. Mai in der ZDFmediathek abrufbar und am 17. und 24. Mai ab 21.45 Uhr in ZDFneo zu sehen (je drei Folgen).