TV-Kritik "Anne Will" Hau den Rösler, streichle den Wulff!

  • von Sylvie-Sophie Schindler
Anne Will hat es tatsächlich geschafft, auf einen ereignisreichen politischen Tag zu reagieren und das Thema ihrer Sendung umzuwerfen. Noch besser: Zu Gast war unter anderem die Schriftstellerin Thea Dorn, die jene Fragen stellte, die Anne Will selbst hätte stellen sollen.

Der Herr zu Guttenberg hat, und das muss man ihm lassen, ein besseres Händchen für Timing. Sein aktuellstes Weihnachtsmärchen liegt hübsch gebunden in den Buchläden und demnächst auch als kurioses Verlegenheitsgeschenk unter diversen deutschen Christbäumen. Doch der Herr Wulff, Sakradi, kriegt einen ähnlich gearteten Coup beim besten Willen nicht mehr hin. Dabei schreit doch alles nach einem Bundespräsidenten-Bestseller, beispielsweise mit dem Titel "Vorerst 500.000 Euro". Sicher ließe sich, um das Vorhaben zu stemmen, irgendwo ein Chefredakteur auftreiben, der sich ganze drei Tage lang – siehe Modell "Gutti" – mit Christian Wulff in ein Hotelzimmer zurückzieht, um endlich die Wahrheit über dessen umstrittenen Privatkredit aus ihm heraus zu pressen. Natürlich inklusive gebotener investigativer Knierutscherei.

Doch da Wulff in absehbarer Zeit noch nicht die Bücherlisten stürmt, obwohl mindestens die halbe Nation sich fragt, wieso er die Kreditaufnahme von einer befreundeten Unternehmergattin bei einer Befragung vor dem niedersächsischen Landtag verschwiegen hat, nahm sich Anne Will in ihrem ARD-Polittalk der Causa an – und verschob dafür sogar kurzfristig das ursprüngliche Thema "Deutschlands Beamte - überversorgt und überflüssig?" Zusätzlich befeuert wurde die TV-Debatte durch den FDP-Generalsekretär Christian Lindner, der wenige Stunden zuvor sein Amt hinschmiss. "Lindners Rücktritt, Wulffs Kredit - was ist los mit unseren Politikern?", lautete die These, die Anne Will sodann ihren Gästen zum verbalen Fraß vorwarf.

Rösler "vollkommen inkompetent"

Gekommen, um zu reden waren der FDP-Politiker und Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel, Peter Altmaier, erster parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, die Schriftstellerin Thea Dorn, Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Grüne, der Journalist Christoph Lütgert und Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der stern-Chefredaktion.

Natürlich, und das trieb die Runde um, garantieren die jüngsten Aufreger, dass Schwarz-Gelb weiterhin nicht zur Ruhe kommt. Und: so schnell sei auch kein Ende abzusehen, sondern vielmehr eine Zuspitzung der desaströsen Zustände, insbesondere bei den Liberalen. "Es ist nur eine Frage des Zeitpunkts, wann Rösler geht", prognostizierte Jörges, der den FDP-Chef als "vollkommen inkompetent" einstufte. Vehementes Nicken von Lütgert, der die Frage in den Raum stellte, warum man denn überhaupt noch die FDP wählen solle: "Wofür steht die FDP, was andere nicht besser liefern können?"

Thea Dorn gab die Co-Moderatorin

Auch Dorn weiß mit den Liberalen nichts mehr anzufangen. Sie habe sich einst erhofft, dass Freiheit als politische Idee realisiert würde, allen voran von der FDP, doch "dass der große Menschheitsgedanke so schlecht verwaltet wird, tut mir in der Seele weh". Niebel freilich wehrte sich gegen das, wie er sagte, "FDP-Bashing" und bekam Rückendeckung von Altmaier, der entschieden betonte, dass die FDP nicht so schnell tot zu kriegen sei. Wie aber wirkt sich eine – unbestritten – kränkelnde Partei auf die Koalition aus? Es kränkeln doch alle, argumentierte Autorin Dorn. Die Politik hätte versagt. Ja, werden jetzt vielleicht Stammtischbrüder und -schwestern einwerfen, das sagen wir doch immer schon.

Trotzdem, mit ihren Kommentaren, nicht immer neu, aber so frisch von der Leber weg und gleichzeitig klug und präzise formuliert, empfahl sich Dorn mindestens als Co-Moderatorin. Ohne sich aufzudrängen oder Anne Will das Heft aus der Hand nehmen zu wollen, war sie Sprachrohr für sicher viele Zuschauer und stellte entscheidende Fragen, die besser, weil auch gut und Impulse gebend, die Gastgeberin selbst gestellt hätte. "Ich will endlich, dass mir eine Partei schlüssig erklärt, warum Europa eine wunderbare Idee ist", forderte Dorn beispielsweise. Denn wer bitte kriege glänzende Augen, wenn er Europa höre? Wo könne Europa die Menschen emotional erreichen?

Die Skandalmaschine nicht angeworfen

Dann: Wulff im Visier - und die Frage nach seinem Verschweigen des Privatkredits. Hier konterte Dorn gleich: "Wieso ist das so eine dramatische Frage?" Ein entschlossener Versuch der Deeskalation, dem auch alle beisprangen, bis auf den, wie er sich selbst bezeichnete, "unglaublich enttäuschten" Lütgert, der sich einen Mann, der an Glaubwürdigkeit verloren habe, nicht mehr im Bundespräsidentenamt vorstellen könne. Klar, so die anderen, Wulff müsse sich zu dem Fall äußern, Schweigen würde nicht akzeptiert, die Sache sei auch "keine Bagatelle", aber es wäre ein schwerer Fehler, den Bundespräsidenten quasi "kaputt zu reden".

Die Skandalmaschine wurde also nicht angeworfen. Talkshow als Ort der zweiten und auch dritten Chance. Man mag das als Kuschelprogramm missdeuten, man mag parteipolitisches Kalkül oder was auch immer für niedere Beweggründe unterstellen, doch man kann es auch aus anderer Perspektive betrachten, als nachahmenswerten Schritt, sich von Meinungsepidemien zu distanzieren, den Erregungsdienst zu verweigern, so wie es Peter Sloterdijk ausdrückt. Der Philosoph sieht darin nämlich den einzigen Beweis für Souveränität: "Ich bin nur frei in dem Maß, wie ich Eskalationen unterbrechen und mich gegen Meinungsinfektionen immunisieren kann." Das Subjekt, also wir, müsste demnach Unterbrecher sein und "nicht einfach nur ein Kanal für den Durchlass von thematischen Epidemien und Erregungswellen." Oder anders gefragt: Bringt es wirklich etwas, sich aus aktuellem Anlass über den Bundespräsidenten zu echauffieren? Müssen wir das tun oder haben wir nicht auch andere Probleme?

Dem Wulff-Skandal fehlt der Bunga-Bunga-Faktor

Blöd ist ja auch, dass die Sache weder Glanz noch Glamour hat. Die Rede ist ja nicht von Bunga-Bunga-Partys à la Berlusconi, was man wenigstens erfrischend skandalös und anrüchig finden könnte. Nein, es geht um ein unspektakuläres Einfamilienhaus, das mit einem zinsgünstigen Privatkredit finanziert wurde – zumindest weiß man zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr darüber. Und das ist so aufregend wie Sauerkraut mit Würstchen. Natürlich, um es nicht so profan abzutun, es geht auch, und das verfolgt uns ja nicht erst seit Guttenberg, um Wahrhaftigkeit in der Politik. Doch sollte man sich da wirklich noch Illusionen machen? Und was würde es Anne Will und ihren Talk-Kollegen helfen, wenn Politik ausschließlich von Musterknaben gemacht würde? Am 25. Januar 2012 möchte die Moderatorin nämlich wieder auf Sendung gehen.

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