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Auf der Shooting-Range Lehrer an der Waffe: In den USA lernen Pädagogen, wie sie Amokläufer erschießen

Wichtiger als binomische Formeln? Abdrücken können, bevor man erschossen wird
Wichtiger als binomische Formeln? Abdrücken können, bevor man erschossen wird
© Maddie McGarvey
Wer stoppt in den USA Schüler, die Amok laufen? Donald Trump sagt: Lehrer, die schießen können. Unser JWD-Reporter ist zu Besuch beim Waffentraining für Pädagogen in Ohio.
Von Frederik Seeler

Sechzehn Lehrer stehen auf einer Shooting Range in Ohio, ziehen sich ihre Kapuzen über, weil der graue Himmel ein paar Regentropfen fallen lässt, und drücken dann Patronen in die Magazine ihrer Pistolen. Sonst unterrichten sie Geschichte oder Mathematik, coachen das Footballteam oder singen mit dem Musical-Chor. Heute sollen sie üben, wie man richtig mit einer Pistole schießt. Genauer: Wie sie damit jemanden erschießen. Einen Amokläufer, der ihre Schule mit einem Sturmgewehr betritt, um Schüler zu töten.

Die Lehrer setzen den Gehörschutz auf und ihre Schutzbrillen. Dann treten sie an eine Linie, sehen die Zielscheibe vor sich mit den Umrissen von Oberkörper und Kopf. "Konzentriert euch. Ihr rettet hier Kinderleben", sagt ein Trainer. Die Pädagogen heben ihre Pistolen und drücken ab, Patronenhülsen fliegen über ihre Schultern, Neun-Millimeter-Projektile knallen in die Pappscheiben. Als der letzte Knall verhallt ist, schaut der Trainer auf die Einschlaglöcher. Fast alle Kugeln haben den inneren Kreis des Oberkörpers getroffen. "Good job", sagt er. "Wir werden heute Spaß haben."

Spaß ist vielleicht nicht das naheliegendste Gefühl, wenn man an Waffen­gewalt in den USA denkt. In keinem anderen Land kommt es so häufig zu Schießereien an Schulen: im Schnitt an jedem achten Schultag im Jahr 2018. Oft sind die Täter selbst Schüler, die nach Jahren des Mobbings, der Einsamkeit und psychischer Krankheit mit einer geklauten oder sogar legal gekauften Waffe um sich ballern. 28 Jugendliche und sieben Lehrer starben dadurch allein im vergangenen Jahr.

Gesetzesvorschläge, die den Zugang zu Waffen in den USA erschweren sollen, scheitern traditionell. Selbst jene, die nur die besonders gefährlichen Sturmgewehre für Privatleute verbieten sollen. Im ­Februar 2018 schlägt Präsident Donald Trump eine andere Strategie vor, die von der Waffenlobby schon lange unterstützt wird: Waffen mit Waffen bekämpfen. Amokläufe in Schulen verhindern, indem man Pädagogen mit Pistolen bewaffnet. Und so absurd die Idee zunächst auch klingen mag, hat sie die Lehrer an manchen Schulen überzeugt.

Joko Winterscheidt auf dem Cover der JWD, Ausgabe 13
© Philipp von Ditfurth

Ein Artikel aus ...

... JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Die 13. Ausgabe gibt es ab 27. Juni am Kiosk – oder hier.

20. April 1999, Colorado, Amoklauf von Columbine

Zwei Schüler, 17 und 18 Jahre alt, wollen in ihrer Schule Bomben hochgehen lassen. Als die Zündtechnik versagt, schießen die beiden mit Pumpguns und Schrotflinten um sich. Sie töten zwölf Kinder, einen Lehrer und am Ende sich selbst.

Seit dem Massaker von Columbine verging kaum ein Jahr ohne Amoklauf an einer amerikanischen Schule.

Fast genau 20 Jahre später, zurück auf der Shooting Range in Newcomerstown, Ohio. Die Lehrerinnen und Lehrer haben zum Kurs ihre eigenen Pistolen mitgebracht: österreichische Glocks, deutsche P9S oder amerikanische Modelle von Smith & Wesson. Ab etwa 350 Dollar kann man sie im Gunshop kaufen oder im Internet bestellen. Die meisten der Kursteilnehmer unterrichten an Schulen im ländlichen Teil des Staates. Ein junger Lehrer erzählt, die Polizei bräuchte 20 Minuten, um seine Schule zu erreichen. Bis dahin wären bei einem Amoklauf Dutzende Schüler längst tot. Er heißt Jordan B., trägt eine blaue Funktions­jacke, Brille und Cap. Ein höflicher Mann, der gerade 30 geworden ist und seit ei­nigen Jahren an einer Middle School in Ohio Geschichte unterrichtet. Schon als er zwölf war, brachte sein Vater ihm das Jagen bei. Er lernte, mit der Schrotflinte auf Enten und Kaninchen zu schießen oder mit einem Jagdgewehr Rehe zu erlegen. Jordan sagt, er lese viele Geschichtsbücher über den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Das seien Leute mit Mut gewesen, Vorbilder. Er lädt seine Smith & Wesson durch.

Mit den anderen Lehrern tritt er an die Linie für die nächste Übung. Schüsse aus fünf Metern Entfernung auf die Pappscheibe. Jordan B. gräbt seine Füße in den Kies, atmet aus und feuert. Bis auf eine treffen alle seine Kugeln den inneren Kreis. Ein Trainer mit Schnurrbart und Cap kommt auf ihn zu und sagt: "Well done." Aber er dürfe beim Schießen nicht so verkrampfen. Schließlich könne er auch nicht nervös sein, wenn er das Klassenzimmer verlässt, um einen Amokläufer zu töten.

Ohio gehört zu den Staaten, die Lehrern offiziell erlauben, Waffen im Unterricht zu tragen. Jede Schule entscheidet selbst darüber und wählt geeignete Kandidaten aus. Jordan B. wird seine Pistole im Unterricht versteckt tragen. Eingeklemmt in einem dünnen Holster an der Innenseite der Hose, damit die Schüler sich nicht eingeschüchtert fühlen. Jordan B. heißt in Wirklichkeit anders und möchte nicht fotografiert werden. Wenn jemand von seiner Waffe wüsste, wäre er ein einfaches Ziel für einen Amokläufer an seiner Schule, sagt er. Bald möchte er sich aber eine leichtere Pistole kaufen, eine, die angenehmer zu tragen ist. Die Schule bezahle die Ausrüstung zwar nicht, aber vielleicht könne er sie ja von der Steuer absetzen.

Das Training für die Lehrer ist freiwillig. Ein Verein für Waffenrechte in Ohio hat es entworfen und hilft bei der Finanzierung. Der Verein "Faster saves Lifes" bietet es an. Der Name "Faster" bringt das Argument für die Lehrerbewaffnung auf den Punkt: Je schneller jemand auf einen Amoklauf reagiert, desto mehr Leben werden gerettet. Wenn die Polizei 20 Minuten braucht, muss der Geschichtslehrer eben selbst zum Cop werden. Und wenn er dafür ein paar zusätzliche Pistolen, Patronen und Holster kaufen muss, haben die Waffenhersteller auch nichts dagegen.

14. Dezember 2012, Newtown in Connecticut, Sandy-Hook-Massaker

Ein 20-Jähriger schießt seiner Mutter in den Kopf und fährt danach zur nahegelegenen Grundschule Sandy Hook, wo er mit dem Sturmgewehr seiner Mutter 20 Kinder umbringt. Die Opfer sind sechs und sieben Jahre alt. Die damals regierenden Demokraten schlagen ein Gesetz vor, das Privatleuten verbieten soll, Sturmgewehre zu kaufen. Der Senat stimmt dagegen.

In der amerikanischen Verfassung steht: Jeder Bürger hat das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen. Geschrieben wurde sie, als das Land im 18. Jahrhundert seine Unabhängigkeit erkämpft ­hatte. Die Armee bestand zu Teilen aus freiwilligen Milizen, die zu Hause ihre Musketen bereithielten, falls die Briten es sich anders überlegten. Aber auch 300 Jahre später gilt dieser Artikel für die meisten im Land als unantastbar. Die Waffenlobby NRA und die Republikanische Partei verstehen es, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass Gun Control bedeute, die Linken würden ihnen ihre Waffen und damit ihre Rechte wegnehmen, ja ihre ganze Freiheit.

Kein Amoklauf, egal wie brutal er auch war, scheint daran etwas zu ändern. Die NRA hat eine ganze Sammlung an Aphorismen, um ihr Engagement zu rechtfertigen. Sie sagt: Die Person tötet, nicht die Waffe. Oder wie im Falle der Lehrerbewaffnung: Gegen einen Bösen mit Waffe hilft nur ein Guter mit Waffe. Selbstverständlich würde es auch helfen, wenn weder Böser noch Guter eine Waffe tragen würden. Aber das ist weit weg von der amerikanischen Realität.

Ein Mitarbeiter des "Faster"-Programms ist zu dem Training nach Newcomerstown gekommen. Er heißt Joe Eaton, ist Mitglied der NRA und spricht während einer Pause zu den Lehrern. "Viele Liberals sagen, wir brauchen strenge Waffengesetze. Aber alles, was sie damit erreichen, ist, den Leuten, die helfen wollen, die Waffen wegzunehmen. Leuten wie euch." Doch heute ginge es einzig darum, Schüler zu schützen und nicht um Politik, sagt er. Die Lehrer um ihn herum klatschen.

Dann erklärt der Trainer die nächste Übung, bei der die Lehrer auf eine Scheibe aus Metall zulaufen und so lange schießen sollen, bis ihr Magazin leer ist. Es regnet jetzt immer stärker. Jordan B. zieht sich eine Regenjacke über. Dann läuft er vorwärts und drückt ab. Jede Kugel, die auf die Metallscheibe einschlägt, klingt wie ein Glockenläuten. Alle seine Schüsse treffen. "Hell, yeah!", ruft der Trainer neben ihm.

14. Februar 2018, Florida, Schulmassaker von Parkland

Ein 19-Jähriger löst in seiner ehemaligen Highschool den Feueralarm aus, die Schüler laufen daraufhin aus den Klassenräumen. Innerhalb von wenigen Minuten tötet er 14 Schüler und drei Lehrer. Ein bewaffneter Wachmann, der vor der Schule steht, schafft es nicht in das Gebäude. Der Amokläufer flüchtet aus der Schule und kauft sich bei Walmart einen Softdrink, bevor er verhaftet wird. Das Sturmgewehr, das er legal gekauft hatte, wird auch vom amerikanischen Militär verwendet.

"Faster"-Mitarbeiter Eaton erzählt, dass nach dem Parkland Shooting und Trumps Vorschlag Hunderte Lehrer bei ihm anfragten, um bei diesem Ausbildungsprogramm mitzutrainieren. Etwa 2500 Teilnehmer haben es seitdem durchlaufen. Nicht nur Lehrer, auch Busfahrer, Mitarbeiter von Kirchen und Unternehmen, die sich vor Amokläufern schützen wollen, haben mitgemacht. Hunderte würden auf der Warteliste stehen, der Verein bietet nun auch Kurse in anderen Staaten an.

All das mag für Außenstehende unfassbar wirken. Wie sollen Pädagogen die Aufgabe von Polizisten übernehmen, von jahrelang ausgebildeten Spezialkräften? Aber pragmatisch betrachtet, wird sich in der nächsten Zeit im amerikanischen Waffenrecht wohl wenig verändern, vor allem nicht unter Präsident Trump. Und damit werden Amokläufer in den meisten Staaten weiterhin mit einem legalen Sturmgewehr in Schulen laufen und Kinder erschießen können. Wenn ein paar Lehrer in ländlichen Schulen also eine Pistole tragen und sich trauen, diese einzusetzen, argumentieren die Befürworter, könnte das vielleicht ein paar Leben retten. Doch viele Fragen bleiben offen. Einige davon stellte sich auch Geschichtslehrer Jordan B.

Er erzählt, dass wahrscheinlich jeder Lehrer in den USA am Tag des Parkland Shooting darüber nachgedacht habe, wie er bei einem Amoklauf reagieren würde. Kurz danach bat sein Schulleiter ihn in sein Büro und fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, eine Waffe im Unterricht zu tragen. Jordan B. überlegte eine Woche lang. Er redete mit seiner Frau darüber. Er fragte sich: Kann ein viertägiger Kurs ausreichen, um ihn auf einen Amoklauf vorzubereiten? Was, wenn ein Kind aus Versehen seine Waffe in die Hände bekommt? Oder wenn der Amokläufer nur ein Messer hat? Soll er dann die Pistole zücken? Was, wenn die Polizei in die Schule kommt und ihn für den Amokläufer hält? Wenn es der Schütze als Erstes gezielt auf ihn absieht? Und was, wenn es sein eigener Schüler ist, der mit einer Waffe vor ihm steht? Könnte er ihn einfach so erschießen? Dann sagte Jordan B. zu.

Diese Geschichte stammt aus der 13. Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier

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