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Initiative gegen Einsamkeit Tante Inge ist 90, ganz allein und hat noch einen Wunsch

Vor anderthalb Jahren haben sich Kerstin und ihre Großtante Inge zum ersten Mal gesehen. Die alte Dame hatte eine Menge zu erzählen und hat sie so begeistert, dass Kerstin nun Generationen verbindet.
Von Susanne Baller

Während wir noch mitten im Leben stehen, arbeiten, Kinder großziehen, uns mit Freunden treffen, können wir uns nicht so richtig vorstellen, wie es wohl später mal sein wird. Wenn vielleicht unser Partner verstorben ist, unsere Kinder ihr eigenes Leben führen oder weit entfernt sind, unsere Freunde genauso alt und tatterig sind wie wir, wenn sie überhaupt noch leben. Klingt düster, ist aber Realität für die allermeisten alten Menschen in unserem Land. Die allein oder in Altenheimen leben und nie mehr richtig herauskommen.

Ganz ähnlich ging es auch Tante Inge. Tante Inge ist die Großtante von Kerstin Müller, sie ist 90 Jahre alt und war Kerstin bis Weihnachten 2013 völlig unbekannt. Ihr Besuch war der erste, den Tante Inge in 17 Jahren hatte. Sie lebt allein in einem kleinen Haus in der Nähe von Magdeburg und hat keine direkten Angehörigen mehr - sie hat alle überlebt. Als die beiden sich während der Feiertage unterhalten, stellt sich heraus, dass Tante Inge zwar alt, aber völlig fit und nicht wunschlos glücklich ist. Sie würde nämlich so manches gerne noch einmal erleben, "aber niemand nimmt mich mit", sagt sie. Dabei sind es recht kleine Wünsche, die Tante Inge hat, etwa ein Kinobesuch in Magdeburg oder ein Abend im Friedrichstadtpalast in Berlin. Doch mit 90 setzt man sich nicht mehr einfach ins Auto oder in die Bahn - und allein machen solche Veranstaltungen sowieso keinen Spaß.

Aus der Idee wird ein Projekt

Kerstin Müller lebt in Berlin und musste nach der Begegnung immer wieder an Tante Inge denken. Die alte Dame hat sie so beeindruckt, dass sie ihren Freunden Anfang des Jahres 2014 auf Facebook von ihr erzählte. Dort entspann sich eine Unterhaltung, wie traurig es ist, dass alte Menschen so einsam sind und oft ohne Begleitung hilflos. Dass, obwohl sie ihr Leben lang für ihre Liebsten da waren, nun niemand mehr für sie da ist. Kurzerhand beschloss Kerstin, ihre bevorstehende berufliche Reise nach Magdeburg einen Tag früher anzutreten und mit Tante Inge ins Kino zu gehen.

Dabei sollte es nicht bleiben. Sie traf sich mit Freunden, die bei Facebook ähnliches berichtet hatten. Sie wollten etwas ändern. Das Projekt Tante Inge entstand. Gemeinsam mit fünf anderen Berlinern, vier Frauen und einem Mann, wurde aus der Vision, alte Menschen mit der jüngeren Generation zusammenzubringen, eine konkrete Initiative. Über Facebook, Twitter und auf ihrem Blog berichtet das Team von seinem Projekt: "Stell dir vor, du bist 90, ganz allein und hast noch einen Wunsch. Aber niemand hört dich. Gruseliger Gedanke? Finden wir auch. Lasst uns das ändern!"

Eine Runde stricken, bitte

Eine der Aktionen ist die erste Kampagne "Tante Inge sucht 1000 Enkel". Diese sogenannten Enkel werden als Multiplikatoren in ganz Deutschland aktiv. Und dazu reicht schon ein "Lippenbekenntnis", also das Versprechen, von der Grundidee zu erzählen: Jeder hat in seinem Umfeld, in seiner Nachbarschaft oder vielleicht auch in der eigenen Verwandtschaft eine "Tante Inge". Einen einsamen älteren Menschen, dem der Kontakt zur "Jugend" verloren gegangen ist. Den man glücklich machen könnte, indem man ein wenig Zeit mit ihm verbringt. Wer nicht genau weiß, wie er das anstellen soll, wie man jemanden findet, dem schickt das Tante-Inge-Team Tipps.

Neben der 1:1-Idee veranstaltet "Tante Inge" auch größere Kennenlernrunden. Unter dem Motto "Tante Inge strickt!" etwa werden Treffen organisiert, bei denen sich Jung und Alt begegnen - und nicht nur Stricken voneinander lernen können. Die Veranstaltungen mit Kaffee und Kuchen finden an unterschiedlichen Orten in ganz Deutschland statt, die nächste Mitte Juni im westfälischen Hamm, und können zum ersten Meilenstein einer persönlichen Beziehung werden. Die echte Tante Inge, Kerstins Großtante, ist total begeistert von dem ganzen Projekt. Vergangene Woche hat Kerstin sie besucht, war mit ihr an der Elbe spazieren und in ihrem Garten picknicken - das erste Mal nach Tante Inges kürzlichem Oberschenkelhalsbruch. Und wie schon so oft sagte Tante Inge wieder: "Du bist verrückt, was du alles machst. Und das auch noch mit meinem Namen!"

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