Auf dem Hoteldach des Petit Ermitage in Hollywood schiebt sich ein grauweißer Bausch Wolke vor die Sonne. "Bitte komm zurück, liebe Sonne", sagt Shayna etwas jammernd, kneift die Augen zusammen und zieht eine flauschige Decke über ihren nackten Oberkörper. "Hattest du je Sonnenbrand auf den Nippeln?", fragt sie jemanden über mich hinweg.
Shayna schließt ihre Augen, fährt sich durch die langen, braunen Haare, deren Spitzen erdbeerblond gefärbt sind. Wir sitzen und liegen zu dritt auf einer massiven Chaiselongue, eigentlich ein Doppelbett, amerikanische Größenliga, eingesunken in erdfarbene Kissen, die nach Marokko aussehen und sich nach Fünf-Sterne-Luxus anfühlen. Ein Hotelangestellter bringt zwei Heizstrahler, in denen Flammen auflodern. Er sieht aus wie ein Model, trägt sehr weiße Shorts und eine dunkle Anderson-Paak-Sonnenbrille, hat hellblond gefärbte Haare und einen perfekt ebenmäßigen Teint.
Onlyfans: Arbeiten vom Hotelpool aus
Eine Frau mit honigfarbenen Korkenzieher-Locken hatte mich auf das Hoteldach eingeladen. Wir hatten uns wenige Tage zuvor im Café um die Ecke kennengelernt. Ich mochte ihre Sonnenbrille, deren Gläser pink und in Herzform waren. Wir tauschten Nummern aus und sie meldet sich entgegen vorurteilsbehafteten Warnungen meiner deutschen Freunde vor der unerträglichen Unverbindlichkeit der US-Amerikaner und lädt mich für Freitagnachmittag ein. Sie und ein paar ihrer Freunde würden auf dem Dach eines Hotels in Hollywood remote arbeiten. Was arbeitet man vom Hotelpool aus, frage ich mich, und dann auch sie in einer unbeholfenen Nachricht, abgerundet mit einem "haha". Korkenzieher antwortet etwas von Social Media und "Onlyfans" und ich verstehe nicht, was sie meint.
Was sie meint, ist, dass sie Geld verdient mit Inhalten auf sozialen Netzwerken. Onlyfans ist dabei vor allem bekannt für erotische Inhalte hinter Bezahlschranke. Korkenzieher kreiert Content über alles Mögliche: Festivals, Outfits, Musik. Sie war früher Sexarbeiterin.
Freitagnachmittag parke ich also an einer steil abfallenden Straße in den Hollywood Hills. Im Eingangsbereich des Hotels ist es so dunkel, dass ich kurz blinzeln muss, als ich die angenehm kühle und merkwürdig stille Lobby betrete. Es fühlt sich exklusiv an. "Mit wem sind Sie hier?", fragt der Concierge. Ich hatte mir Korkenziehers Namen nicht gemerkt. "Ah, Susanne?" Mein Name stehe auf einer Liste. Mir entfährt so etwas wie ein Knicks, dann fahre ich in einem in Holz vertäfelten Fahrstuhl in den vierten Stock des Hotels und hoffe, dass niemand merkt, dass ich 900 Follower auf Instagram habe und nicht 325K.
Es ist spektakulär auf dem Dach: Palmen, Pool und drei Stufen hoch zu einer Art Bühne, auf der vier Chaiselongues stehen. Korkenzieher begrüßt mich freundlich und deutet an, mich zu setzen. Sie zeigt reihum auf die anderen und listet routiniert Namen auf. Um uns herum liegen auf anderen Liegen andere Menschen, alle schön, fast alle mit Laptop auf dem Schoß. Niemand sieht mich direkt an. Eine Frau mit Hut reißt den Kopf herum und die Augen auf: "Ich dachte, du wärst meine Cousine!"
Hunderte Dollar Trinkgeld und spontane Reels
Man blickt auf Bildschirme, gelegentlich wird gesprochen. Korkenzieher erzählt, dass sie gestern 200 Dollar Trinkgeld vergeben hat; 100 für den Uber-Fahrer und 100 für einen Kellner. "Es kommt immer irgendwie zu dir zurück, und ich habe mehr als genug", sagt sie. Dann zeigt sie mir Bilder von ihrem Urlaub in Mexiko, vergangene Woche. Sie wischt durch Fotos, auf denen sie und ihre Freundinnen spontan ein Nackt-Shooting im mexikanischen Hotelpool machten. Da lehnen an antik anmutenden Säulen antik anmutende, nackte Körper, wie Pflanzen, die aus dem Boden schießen. Anschließend geht es um ihre Geburtstagsparty, sie wolle eine Motto-Party veranstalten: "Göttinnen", oder etwas in der Art. Ich sage: Toll, dass du deine Arbeitszeit dafür nutzen kannst, deinen Geburtstag zu planen.
Ich frage Shayna nach ihrem Leben. Sie studiert, ihre Eltern würden das so wollen. Ansonsten surfe sie viel in Malibu, treffe dort manchmal zufällig Spiderman-Schauspieler Andrew Garfield. Sie redet schnell und hat eine vorlaute Art, die sympathisch und direkt ist. Die Konversation geht über in unbeholfenes Lächeln, stockt und endet, und ich überlege, was ich hier eigentlich mache.
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Monika Matschnig: "Sie schafft es ihre Vorzüge ins rechte Licht zu rücken. Dabei möchte sie sexy sein und spielt mit ihrer Weiblichkeit, indem sie Po und Brust ausstreckt. Die Pose wirkt besonders gut im Profil. Wahrscheinlich setzt sie unbewusst auf die Merkmale des Kindchenschemas: große Augen, sinnlicher Mund, runde Gesichtsform.
Frauen wirken besonders attraktiv, wenn das Gesicht 'kindlichere' Merkmale aufweist. Außerdem erinnert sie mich an Brigitte Bardot. In anderen Bildern zeigt sie häufig ihre nackte Taille. Ihre Figur entspricht der 'Cola-Flaschen-Form', die in Industrienationen als äußerst attraktiv angesehen wird."
Wenige Minuten später kommt die Sonne wieder durch die Wolken gebrochen. Ich drehe mich um und strecke mich etwas, um den Blick über die Hügel und Häuser dieser Stadt schweifen zu lassen. Die Sonne überzieht die Hügel, den Küstenstreifen mit den schwappenden Wellen, die Blätter der Palmen mit einem immergoldenen Filter. Shayna schlägt die Kuscheldecke wieder zurück.
Korkenzieher hält ihr iPhone vors Gesicht und nimmt ein TikTok auf, ganz spontan, wie sie ganz spontan ankündigt. Es geht um veganes Leder und wie es nicht nachhaltig ist, weil echtes Leder länger hält, und darüber sollte man nachdenken. Anerkennendes Kopfnicken. Eine sehr dünne Frau mit Anna-Wintour-Pony, sagt: "One-Take? Respect."
Keine Reaktion, unbeeindrucktes Scrollen. Dann setzt Korkenzieher an: "Ich habe mich in letzter Zeit mit Buddhismus beschäftigt. Und es geht vor allem darum, dass du im Jetzt leben musst. Denn alles, was dein Leben schlecht macht, liegt in Erwartungen. Erwartungen an die Zukunft." Man dürfe Erwartungen haben, aber eigentlich auch nicht, denn man müsse sie loslassen, um im Jetzt zu leben.
Ich nicke höflich, weil ich unsicher bin, ob ich angesprochen wurde. Perfekter Pony von der Liege gegenüber gibt zu bedenken, dass jeder Traurigkeit anders empfinde und die Träume eines jeden individuell seien. Shayna zieht ein Buch aus ihrem Beutel und legt es neben sich. Ich lese das Cover. Es geht darum, wie die Gesellschaft uns beigebracht hat, uns selbst zu hassen.
Einmal legt Korkenzieher eine Hand auf ihren Unterbauch und atmet hörbar aus. Sie rutscht in ihrem Bikini auf der Liege hin und her und ich frage, ob sie Unterleibsschmerzen hat. Sie sagt etwas wie, ach, es geht schon, und dann: "Es ist nur wegen der Abtreibung", und lacht tonlos. Dann geht es kurz um den Mann, mit dem sie nun nicht mehr zusammen sei und ich erinnere nichts von unserer Unterhaltung, nur, dass ich sie frage, ob sie ihn gemocht hatte.
Ich verstehe noch immer nicht, wieso ich hier bin oder was gearbeitet wird, aber ich traue mich auch nicht, zu fragen. Auch so spricht mich niemand an. Als wäre meine Anwesenheit normal, so als wäre ich keine Fremde. Wer weiß, wie oft hier jemand sitzt und Korkenzieher und ihren Freunden beim Arbeiten oder Leben oder Content kreieren zuschaut.
Das Schmetterlings-Tattoo
Später gibt Korkenzieher eine Führung durch die Tiefen des Hotels, spricht über die Kunst in den Gängen, die Graffitis und Licht-Installationen. Das Anderson-Paak-Model bringt Pommes und Avocado-Sandwiches. Irgendjemand bezahlt die Rechnung. Korkenzieher verschwindet, nachdem sie die benutzten Decken zusammenlegt. Sie räumt auf, als wäre das Dach ihr Wohnzimmer. Irgendwann kommt dann tatsächlich die Cousine von Hut und setzt sich auf die riesige Liege zu Shayna und mir, wo inzwischen auch alle anderen kreuz und quer unter derselben Decke liegen, ungefähr sechs Menschen.
Man redet über Tattoos - Pony hat ein Semikolon am Handgelenk. Ihr zweites Leben habe vor eineinhalb Jahren begonnen. Das Dreieck an meinem Handgelenk löst Jubelstürme aus, weil es gleichschenklig sei und gleichzeitig nicht. Mein Handgelenk wird auf und ab bewegt und herumgereicht. Der Boyfriend von perfekter Pony hat ein sehr symmetrisches Gesicht und eine Schwäche für Geometrie. Er reißt die Augen weit auf vor Begeisterung.
"Was bedeutet dein Schmetterling?", fragt er Shayna, noch immer begeistert. Sie sagt: "Meine beste Freundin und ich, wir haben dasselbe Tattoo, es steht einfach für uns." Nach einer kurzen Pause sagt Shayna: "Sie ist gestorben, letzten November." Ein Windstoß geht über den Moment auf der Dachterrasse, leise Stimmen murmeln Beileidsbekundungen. "Wer war deine Freundin?", fragt Pony. Als Shayna ihren Namen nennt, schauen sich sie und der Boyfriend kurz vielsagend an. Dieses Mal frage ich nicht nach.
Die Gruppe beschließt, in ein Spa in Koreatown zu fahren. Ich nehme Shayna im Auto mit. Wir halten an einer Ampel und ich sage, dass es mir leid tut mit ihrer Freundin. Dann entschuldige ich mich mit Kopfschmerzen und fahre vor Sonnenuntergangskulisse nach Hause. Ich parke in meiner Straße, ziehe den Schlüssel ab und bleibe mit offener Tür noch lange im Auto sitzen.
Online finde ich Artikel in der "LA Times" über Shaynas Freundin, scrolle schweigend und lesend über den Bildschirm. Sie war Model, 24 Jahr alt. Sie sei auf einer Party feiern gewesen, sei zusammen mit einer Freundin zu Bekannten aus der Filmbranche nach Hause gegangen. "Eine Gruppe vermummter Männer in einem Fahrzeug ohne Kennzeichen", wie es in dem Artikel heißt, legten sie Stunden später bewusstlos vor einer Klinik ab. Sie wird für tot erklärt. Drei Männer werden kurz darauf wegen des Verdachts auf Totschlag festgenommen.
Mein Kopf hämmert als die Sonne untergeht und ich meine Straße über den Rückspiegel ein letztes Mal golden aufleuchten sehe. Ich wische durch Fotos und Stories auf Shaynas Instagram-Account, folge ihr mit einem Klick und stelle mein Handy in den Flugmodus.