Schneewittchen trägt Unschuld, ein weißes, leichtes Kleid von Jean Paul Gaultier - vorn noch Windel, hinten schon Negligé. Züchtig ist das nicht, das muss es auch nicht sein. Denn die Solistin des Staatsballetts Berlin (Elisa Carrillo Cabrera) tanzt die Titelrolle des Märchenballetts zur Musik von Gustav Mahler nicht ätherisch entrückt, sondern wie ein Mädchen, das gerade zur Frau reift und seine Reize entdeckt. "Dieses Schneewittchen ist fleischlich, körperlich, es passt in unsere heutige Realität, es ist modern und lebensecht", sagt der französische Stardesigner.
Im Augenblick, so scheint es, verkaufen sich Designer auf der Bühne wieder besonders gut. "In Zeiten der Krise", sagte Gaultier jüngst im Interview, "muss man eben noch kreativer und cleverer sein." Der 57-Jährige hat die Kostüme für das Ballett "Schneewittchen" geschneidert: Seit Ende April ist auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin sein barbusiger Hirsch im Wald mit Geweihhelm, Pelz-Unterleib und Hosenträgern zu sehen. Bei der bösen Königin konnte Gaultier seiner Phantasie besonders freien Lauf lassen und sich selbst noch ironisch zitieren. Denn ihr Korsett erinnert an seinen berühmtesten Bühnenstoff: das raketenförmige Bustier von Madonna auf ihrer Blond-Ambition-Tour 1990.
Viele der Ballettkleider ähneln Gaultiers Hermés-Kollektion
Gaultier spielt wie gewohnt mit Geschlechter-Stereotypen. Der Franzose schickte den ersten Männerrock auf den Laufsteg und webte den weiblichen Models künstliche Brusthaare in die Decolletés ein. Gaultier ist noch immer das Enfant Terrible der Haute Couture - und erfolgreicher Chefdesigner von Hermés, eines der wenigen Luxushäuser, das nicht in der Krise steckt. Schon immer war Gaultier Grenzgänger, hat für Musiker wie Madonna oder Mylène Farmer Tour-Kleider entworfen und mit Filmregisseuren wie Peter Greenaway, Pedro Almodovar und Luc Besson ("Das fünfte Element") gearbeitet.
Viele der Ballettkleider ähneln der aktuellen Sommer-Mode von Hermés, das schwarze Spitzenkleid von Schneewittchens toter Mutter etwa oder die Goldbordüre auf der Hose des Prinzen. Ihn hüllt er, phallusgleich, in eine enge pfirsichfarbene Hose mit Riesenkordel und überdimensionaler Schulterklappe. Die sieben Zwerge tragen den Pilotenlook der Dreißiger, Fliegerbrillen, Federn und Lederjacken - genau wie die Models seiner Hermés-Kollektion für den Herbst.
Die Bühne als Werbefläche für neue Entwürfe scheint selbst für Stardesigner eine lukrative Idee zu sein. Und das Publikum freut sich auch: Denn leisten kann sich kaum jemand ein Kleid von Jean Paul Gaultier, anschauen schon. Viele Designer haben schon als Kind das Ballett und die Oper geliebt - wie Karl Lagerfeld oder Marc Jacobs. Das hat Tradition. Schon Coco Chanel entwarf Kleider für eines der bedeutendsten Tanzensembles des 20. Jahrhunderts, das 1909 gegründet wurde, für die berühmten Ballets Russes. Issey Miyake hat für William Forsythe skizziert, Gianni Versace für Maurice Béjart, Giorgio Armani, Jil Sander und Albert Kriemler für John Neumeier in Hamburg, Marc Jacobs erst 2006 für Benjamin Millepied und das Pariser Opernballett.
Viktor & Rolf toben sich bei der Förstertochter aus
Jean Paul Gaultier ist nicht der einzige Designer, dessen Entwürfe derzeit auf der Bühne zu sehen sind. Karl Lagerfeld schuf für ein Ballett in London ein Tüllkleid mit künstlichen Kamelien, den Lieblingsblumen Coco Chanels. Während der Chanel-Chefdesigner auf Tüll und Tutu setzt, hat das exzentrische niederländische Designer-Duo Viktor & Rolf für den "Freischütz" in Baden-Baden nicht nur Organza, Taft und Satin verarbeitet, sondern auch Jute, thermoplastische Spezialfolie, Spiegelfolie, Perlondrahtschlauch und Klebeflies. Das klingt unbequem, sperriger, schwerer. Der Chor soll Dirndl und Lederhosen aus schwarzem Neopren tragen - heiß in jedem Fall.
Mit dem Designer-Doppel aus Amsterdam wird es keine Puppenstuben-Gemütlichkeit, kein Försteridyll, keine Wald-Romantik geben. "Der kitschige Aspekt schien uns zur romantischsten deutschen Opern des 19. Jahrhunderts zu passen", sagen Viktor Horsting, 40, und Rolf Snoeren, 39. Bekannt sind die beiden "Neo-Surrealisten der Mode" (Suzy Menkes von der Herald Tribune) auf dem Laufsteg für ihre Konzept-Kunst, ihre fast untragbaren Kleider. Riesige Kissen oder Schleifen umhüllen Körper und Köpfe der Models, die aus Bergen von Stoff herausragen. Mode ist für das Designer-Duo, das in Arnheim Kunst studiert hat, immer auch grenzenlose Performance, Happening.
Diesmal haben sie sich in der Welt der Teufel, Förstertöchter und Jäger ausgetobt: mit einem zackigen, roten Blitz-Anzug (Samiel), einem singenden Bouquet, dem wuchtigen Rosenkleid der Agathe, das an eine Meissner-Porzellanfigur erinnert und 3-D-Kostümen mit Schriftzügen wie "Bauer" auf der Schulter. Große Operngänger sind Viktor & Rolf nicht, aber Fans von Robert Wilson. Schon einmal, 1990 am Thalia Theater, hat er den Freischütz inszeniert: als Grusical "The Black Rider" mit der Musik von Tom Waits und den Texten von William S. Burroughs, die Oper mit wenigen Mitteln grandios ins Grotesk-Symbolische, Schaurig-Märchenhafte übersetzt.
Wie ein Comic-Strip wirken ihre Skizzen, die nur an einem Nachmittag entstanden sind, betonen Viktor & Rolf. Bis die Kostüme fertig waren, dauerte es etwas länger. 8000 Stunden genau. So lange nämlich haben die zwölf Schneiderinnen und die zwei Gewandmeister von Angelika Sprolls Werkstatt für Kleider-Kunst in Düsseldorf, "Das Gewand", für die Anfertigung gebraucht, von Dezember bis Mai. Eine Blüte des Agathe-Kostüms war erst nach 15 Stunden fertig, das ganze Rosenkleid nach 900 Stunden. 120 Meter Stoff mussten vernäht werden, darauf noch einmal 160.000 Kristalle. Wilson arbeitet gern auf kargen Bühnen, gilt als Meister des Lichts, weil das Raum schafft. "Es wechselt ständig", sagen Viktor & Rolf. Daher ihre Millionen Kristalle auf den Kostümen, über denen ein feiner, glitzernder Staub liegen soll. So viel Oper muss schon sein.