Stephan Orth hat sein neues Buch Xiao Bai gewidmet – dem Hund, der für ihn im Wok gelandet ist. Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man den reisebegeisterten Autor auf seiner Tour durch China begleiten. Drei Monate erkundete er mit Zug, Bus und Motorroller die Supermacht Asiens von Macau im Süden bis an die nordkoreanische Grenze und hat das Ganze in einem Erfahrungsbericht festgehalten. Das Besondere: Statt nur die üblichen Hotspots wie Peking oder Shanghai zu besuchen, machte er Couchsurfing und tauchte in das Leben der 1,3 Milliarden Einwohner ein – inklusive traditioneller Gerichte.
Auf seiner Reise traf der Buchautor regierungskritische Künstler und motivierte Lehrer, wurde von Katzen gequält und zum Star einer Fernsehsendung, die bis heute nicht ausgestrahlt wurde. Mit NEON spricht er über die Supermacht China und warum das Land weit mehr zu bieten hat, als Hundeklischees und Raubkopien.
Stephan, du sagst, du reist gern in Ländern, die einen schlechten Ruf haben, um dem Leser neue Perspektiven zu eröfnen. Was hat dich an China gereizt?
China ist aktuell eines der interessantesten Reiseländer. Nicht als Erholungsziel, sondern weil man dort einen Blick in die Zukunft werfen kann. Das Land hat sich unglaublich schnell entwickelt und wird in den kommenden Jahren international eine immer größere Rolle spielen, vor allem wirtschaftlich: zum Beispiel mit Projekten wie der neuen Seidenstraße, enormen Investitionen im Bereich Künstliche Intelligenz und dem schnellen Aufbau eines 5G-Netzes. Und trotzdem gehört China zu den Ländern, über die hierzulande viel zu wenig bekannt ist.
Wie war es denn bei dir – hast du dort einen Kulturschock erlitten?
Da ich vorher schon drei Mal in China war, war es weniger ein Kulturschock – aber immer wieder merkte ich, dass die Menschen dort viele Dinge aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Einer meiner Gastgeber zum Beispiel hatte Angst, nach Deutschland zu fahren - wegen einer Nachrichtenmeldung, die in China große Aufmerksamkeit erregt hat: Zwei chinesische Touristen machten vor dem Reichstagsgebäude in Berlin den Hitlergruß und haben sich dabei fotografiert. Dafür mussten sie 500 Euro Strafe zahlen. Für Chinas Propagandamedien war das eine Steilvorlage, sie fragen dann: Wie kann ein Land wie Deutschland, das mit Vorliebe andere über Meinungsfreiheit belehrt, so harte Strafen für so eine "Kleinigkeit" verhängen?
Und es gab noch andere verrückte Erlebnisse...
In einem Dorf bei Guilin wurde ich am Busbahnhof von einem Gastgeber abgeholt, der mir direkt sagte, dass sich seine Eltern total über meinen Besuch freuen würden und extra für mich den Hund geschlachtet hätten. Das folgende Abendessen war mit Sicherheit nicht die angenehmste kulinarische Erfahrung der Reise. Schon absurd: Ich wollte ein China abseits der Klischees erleben und erlebte das ultimative Klischee – den Hund im Wok. Der steht übrigens nicht im ganzen Land auf den Speisekarten. Es gibt viele Chinesen, die noch nie in ihrem Leben Hund gegessen haben.

Apropos Gewohnheiten: Im Westen wird viel über die Unterschiede der Generationen und die sogenannten Millennials gesprochen. Gibt es in China etwas Vergleichbares?
Es gibt in China auch eine Gap zwischen den Generationen – speziell zwischen den Menschen, die etwas älter als Millennials sind und deren Eltern, die in der Zeit der Kulturrevolution aufgewachsen sind (die Kulturrevolution bezeichnet eine politische Kampagne unter dem einflussreichen damaligen Regierungschef Mao Zedong in der Zeit zwischen 1966 bis 1976, Anm. d. R.). Ihre Kinder haben heute einen ganz anderen Alltag, der viel stärker durch Technik geprägt ist. Auch gibt es eine große Influencerszene, die versucht, online berühmt zu werden. Trotz der Unterschiede spielt Familie eine sehr große Rolle in China und man hat großen Respekt vor den Eltern. Manchmal hat man allerdings das Gefühl, dass die jüngere Generation die ältere erzieht und nicht umgekehrt – also den Eltern zum Beispiel sagt, dass es sich nicht gehört, auf die Straße zu spucken.
Was hast du denn von deinen Gastgebern gelernt?
Eine Sache ist mir in vielen Gesprächen aufgefallen: Die Chinesen scheinen Wandel und Veränderungen viel stärker als wir als eine Art Naturzustand wahrzunehmen, mit dem man sich arrangieren muss. In Europa habe ich oft das Gefühl, dass die Menschen kleine Veränderungen akzeptieren, aber sich stark wünschen, dass weitgehend alles beim Alten bleibt. Wir sind schon sehr konservativ. Möglicherweise sind die Chinesen mit ihrer Einstellung besser auf die kommenden Jahrzehnte vorbereitet als wir.
Europa und China sind auch politisch sehr gegensätzlich. Hier diskutieren wir gerade über den Einfluss von Uploadfiltern auf die Pressefreiheit, während die Regierung in China schon seit Jahren das gesamte Internet zensiert.
Diese Entwicklung ist wirklich erstaunlich. Bill Clinton hat bei seinem Besuch in China im Jahr 2000 noch darüber Witze gemacht, der Versuch, das Internet zu kontrollieren sei "wie Wackelpudding an die Wand zu nageln". Aber China beweist das Gegenteil: kein autokratischer Staat versteht es so gut, das Internet für sich zu nutzen. Viele relevante westliche Medien sind zensiert, für viele Anwendungen hat man eigene Versionen entwickelt: Statt Facebook nutzt man QQ, die chinesische Version von WhatsApp heißt WeChat. Firmen wie Google, Amazon oder Facebook konnten dort kein Land gewinnen. Es gibt quasi eine komplette Parallelwelt, die durch die große Zahl der Nutzer auch für die chinesische Wirtschaft sehr wertvoll ist.
Wie nehmen die Chinesen diese Einschränkungen wahr?
Das kommt sehr darauf an, mit wem man spricht. Wer die Regierung kritisch sieht, fühlt sich wegen der allgegenwärtigen Zensur sehr machtlos und findet kaum noch Wege, sich nicht mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Aber die breite Masse passt sich eher an – man akzeptiert die Vorgaben von oben, hat ja nie die Erfahrung gemacht, in einem demokratischen Staat zu leben. Viele sehen den wirtschaftlichen Aufschwung, vielen Menschen geht es besser als noch vor ein paar Jahren. Und diese Wahrnehmung wird natürlich jeden Tag von der staatlich gelenkten Propaganda in den Medien unterstützt.
Wie hast du unterwegs gearbeitet?
Ich nutze jede Möglichkeit, um Dinge zu dokumentieren. Ich mache Fotos, Tonaufnahmen und Videos. Zum ersten Mal habe ich für dieses Buch alle Notizen auf dem Handy gemacht – so fällt man weniger auf, sieht weniger wie ein Journalist aus als mit Notizblock und Stift. Die meisten meiner Gastgeber waren überraschend sorglos, wenn es um die Veröffentlichung ihrer Bilder geht. Eine Künstlerin und Regimekritikerin, die ich in Peking getroffen habe, musste ich vor ihrem eigenen Mut schützen – sie wollte unbedingt mit richtigem Namen und Foto im Buch auftauchen. Das habe ich dann trotzdem geändert. Denn auch eine deutsche Veröffentlichung wird dort wahrgenommen, manche meiner Gesprächspartner könnten dafür Ärger bekommen.
Wer sich weiter informieren will: Buchtipps von Stephan Orth zu China
Evan Osnos: Age of Ambition: Chasing Fortune, truth, and Faith in the New China
Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert
