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Tipps zum Arbeiten und Studieren im Ausland Alles so schön digital hier: Gina, 29, ist nach Estland ausgewandert

Studieren Ausland Estland
Die 29-jährige Gina lebt und arbeitet seit sieben Jahren in der estnischen Hauptstadt Tallinn
© Privat
Eigentlich wollte sie nur ihren Master ein bisschen weiter weg machen, nun lebt Gina seit sieben Jahren in Estland. Im NEON-Interview spricht sie über ihre Erfahrungen und warum sie ihre Lieblingschips vermisst.

Gina aus Heidelberg hat es getan – nach ihrem Master ist die 29-Jährige in der estnischen Hauptstadt Tallinn geblieben. Nun lebt und arbeitet sie dort seit sieben Jahren. Zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen geht es genauso: Sie würden gern eine Zeit im Ausland leben, jeder Fünfte der Befragten aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien würde sogar gern dauerhaft auswandern. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie von YouGov im Auftrag des Finanztechnologie-Unternehmens Transferwise, bei dem auch Gina arbeitet.

Gina, warum wolltest du ins Ausland?
Ich komme aus einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg und hatte schon während der Schulzeit den Wunsch, ins Ausland zu gehen. Ich wollte rauskommen und meinen Horizont erweitern. Ich hatte schon früh Nebenjobs, um Geld zu sparen und habe direkt nach dem Abi in Los Angeles Auslandserfahrung gesammelt. Danach habe ich in Heidelberg Politikwissenschaften und VWL studiert und ein Erasmus-Semester in Granada in Spanien absolviert. Für den Master bin ich nach Estland gekommen und bis heute geblieben. Mittlerweile arbeite ich als Product Manager bei TransferWise, einem Start-Up mit knapp 1300 Mitarbeitern.

Wie kamst du auf Estland?
Ich wollte meinen Master gern im Ausland machen und habe mich dann online über ganz unterschiedliche Studiengänge informiert. Dabei ist mir ein Master in Tallinn aufgefallen. Einerseits dachte ich, es sei vielleicht schlauer, nach London oder Paris zu gehen, weil es internationale Städte sind – aber mich hat die Idee fasziniert, etwas ganz anderes zu machen. Einer der Gründe, warum ich nach über sieben Jahren noch in Estland bin, sind mein Job und die Menschen hier. Außerdem ist Estland super digital: Alle Behördengänge lassen sich online erledigen und auch Internet zu bekommen ist eine Sache von Minuten und nicht von Wochen. Für mich ist es auch etwas Besonderes, dass Tallinn am Meer liegt – das gibt mir jeden Tag ein bisschen das Gefühl von Urlaub.

Wie hast du dein Studium finanziert?
Anders als heute in Deutschland zahlt man in Estland als Ausländer für das Studium Gebühren. Als ich meinen Bachelor gemacht habe, gab es aber sogar in Deutschland noch Studiengebühren – das waren 500 Euro pro Semester. In Estland hat man 1000 Euro bezahlt. Ich hatte glücklicherweise ein Stipendium der Studienstiftung. Sonst hätte ich gearbeitet, denn das ist hier während des Studiums üblich. In Deutschland haben Studenten meist einen 450-Euro-Job. Hier in Estland ist es oft sogar ein Vollzeitjob.

Was war schwierig beim Neustart?
Ich bin mit meinem damaligen Freund nach Estland gezogen. Rückblickend haben wir beide die Situation unterschätzt, so weit weg von Familie und Freunden zu leben. Auch die Sprache war zu Beginn ein Hindernis: Ich hatte immer das Gefühl, dass die Menschen in meinem Umfeld mich nicht ganz hundertprozentig kennen lernen und umgekehrt, weil es da eben diese Sprachbarriere gab. Ich würde heute sagen, dass es ein Jahr gedauert hat, bis ich das Gefühl hatte, echte Freunde gefunden zu haben und vollständig angekommen zu sein.

Was vermisst du an Deutschland – und was nicht?
Vor allem vermisse ich meine Familie. Ich kann eben nicht schnell im Sommer am Wochenende bei ihnen zum Grillen vorbeischauen. Und ich vermisse einige Geschäfte, die ich aus Deutschland kenne - Kosmetikprodukte sind in Estland einfach deutlich teurer und in deutschen Supermärkten bekommt man für wenig Geld gute Qualität. Bestimmte Produkte bringe ich mir mit, wenn ich mal in Deutschland zu Besuch bin. Und wenn es ganz schlimm ist, dann schicken mir meine Eltern auch mal meine Lieblingschips nach Estland. Was ich hingegen gar nicht vermisse, sind deutsche Steuererklärungen. Hier in Estland dauert das maximal fünf Minuten, denn alle betreffenden Daten werden direkt vorausgefüllt. Man muss sich nur einloggen und schauen, ob alles stimmt.

Welche Tipps würdest du jungen Leuten geben, die auswandern wollen?
Die Sprache zu lernen, ist auf jeden Fall ein wichtiger Aspekt. Auch wenn man mit Englisch weit kommt, findet man in der Landessprache doch deutlich mehr Anschluss. Außerdem finde ich es spannend, Freunde aus dem Land selbst aber auch aus vielen anderen Ländern zu haben. Auch auf der bürokratischen Seite gibt es einiges zu beachten: Zum Beispiel, wenn es um die medizinische Versorgung geht. Zudem macht es Sinn, ein internationales Bankkonto zu eröffnen. Denn je nach Land braucht man zur Eröffnung eines Bankkontos einen Wohnsitz, aber eine Wohnung bekommt man nur mit Bankkonto. Da Estland Teil der EU ist, brauchte ich glücklicherweise kein Visum, aber gerade wenn man außerhalb der EU leben möchte, sollte man sich rechtzeitig darüber informieren. Ich habe bei all meinen Auslandsaufenthalten außerdem vorab versucht, Kontaktpersonen zu finden, um immer einen Ansprechpartner vor Ort zu haben. Das geht zum Beispiel über die Organisationen oder das Unternehmen, bei denen man arbeitet.

Willst du irgendwann wieder zurück nach Deutschland?
Ich bin jetzt seit sieben Jahren hier und diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Ich kann darauf ehrlich gesagt keine konkrete Antwort geben. Wenn ich mal Kinder habe, dann würde ich schon gern in der Nähe meiner Familie sein. Bis jetzt hat mich vor allem der Job hier gehalten, der mich fasziniert und mit dem ich wirklich etwas bewegen kann. In Deutschland habe ich bisher nichts vergleichbares gefunden. In Estland fasziniert mich außerdem die moderne Arbeitskultur: Viele Unternehmen, gerade im Technologiesektor, sind sehr fortschrittlich, man kann sich seine Zeit frei einteilen und sehr selbstständig und autonom arbeiten.

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