"Seit Kabinettsbildung der heutigen Bundesregierung hat sich die Bedrohungslage leider nicht verbessert, das Gegenteil ist der Fall - der Handlungsdruck hat also nochmals zugenommen", sagte Wüstner bei der öffentlichen Anhörung im Verteidigungsausschuss des Bundestags. "Wir dürfen an das Gute glauben, müssen uns aber auf das Böse vorbereiten", fuhr er mit Blick auf die Bedrohung aus Russland fort.
Zwar unterstütze der Bundeswehrverband den Ansatz der Freiwilligkeit, jedoch müsse bereits jetzt "ein Umschaltmechanismus" im Wehrdienstgesetz verankert werden, sollte es nicht ausreichend Freiwillige geben. Das werde auch von Kreml-Chef Wladimir Putin als "eindeutiges sicherheitspolitisches Signal der gewollten Abschreckungsfähigkeit" wahrgenommen werden.
Die Gesetzentwurf, auf dessen Grundlage die Ausschussanhörung stattfand, setzt auf ein weitgehend freiwilliges Wehrdienstmodell. Die Koalitionsfraktionen arbeiten derzeit aber an einem nachgeschärften Entwurf, der mehr Pflichtelemente beinhalten soll. Die Vorstellung dieses Entwurfs wird für die kommenden Tage erwartet.
Der Militärexperte Sönke Neitzel von der Uni Potsdam stufte den bislang vorliegenden Gesetzentwurf in der öffentlichen Sitzung des Ausschusses als "Dokument des Zögerns und Zauderns" ein. "Für einen raschen personellen Aufwuchs der Bundeswehr wäre die Einführung einer Auswahlwehrpflicht zwingend notwendig", sagte er mit Bezug zum Beispiel auf das schwedische Modell, wonach nach einer kompletten Musterung nach Bedarf ausgewählt und verpflichtet wird.
Der Kräftebedarf der Truppe sei angesichts der Bedrohungslage wesentlich größer als angenommen, und der Gesetzgeber müsse daher die Voraussetzung schaffen, um rasch eine Verpflichtung einführen zu können, fuhr Neitzel fort. Das hätte auch den Vorteil, die Soldatinnen und Soldaten dort einsetzen zu können, wo sie gebraucht würden.
Quentin Gärtner von der Bundesschülerkonferenz kritisierte scharf, dass junge Menschen nicht in den Gesetzgebungsprozess einbezogen worden seien. Dabei bemängelte er auch die Verunsicherung durch koalitionsinterne Unstimmigkeiten, etwa bei der Ausgestaltung der Musterung. "Hier geht es um die Lebensaussichten junger Menschen", sagte Gärtner. Die Kommunikation rund um das vorgeschlagene Losverfahren sei "ein Desaster" gewesen.
"Motivation entsteht dadurch, dass man uns aktiv beteiligt und Verantwortung überträgt", fuhr der Vorsitzende der Bundesschülerkonferenz fort. Ganz viele junge Menschen "möchten anpacken" - dabei gehe es aber beim Thema Verteidigungsfähigkeit nicht nur um die militärische, sondern auch die zivile Säule. "Unsere Schulen sind eine absolute Katastrophe", sagte Gärtner vor diesem Hintergrund und forderte mehr Investitionen in Bildung und die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Daniela Broda vom Deutschen Bundesjugendring forderte, das Gesetz müsse jugendgerechter gestaltet werden. Dabei sei auch eine transparente Information an die jungen Menschen nötig. "Sicherheit entsteht nicht durch Pflicht, sondern durch gute Rahmenbedingungen."
Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Thomas Röwekamp (CDU), rechnet unterdessen mit einer baldigen Koalitions-Einigung auf die Ausgestaltung des künftigen Wehrdiensts. Er gehe davon aus, "dass das noch in dieser Woche gelingt", sagte Röwekamp im ZDF. Es gehe nur noch um Detailfragen.
Am 3. Dezember soll sich nach Röwekamps Einschätzung dann der Verteidigungsausschuss des Bundestags "abschließend" mit dem Gesetz und einer möglichen Empfehlung befassen. Der Bundestag könnte es dann am 5. Dezember beschließen, damit es kommendes Jahr in Kraft treten kann.
Derzeit dienen etwa 182.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr. Um die Verpflichtungen gegenüber der Nato zu erfüllen, wird eine Aufstockung auf rund 260.000 aktive Kräfte angestrebt. Hinzukommen sollen 200.000 Reservistinnen und Reservisten. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) will einen neuen Wehrdienst einführen, der größtenteils auf Freiwilligkeit beruht. Debattiert wird in der Koalition vor allem, welche Mechanismen greifen sollen, wenn sich nicht genügend Freiwillige finden.