"Bildungsprotesttag" Schulsystem am Limit: Nicht nur in Stuttgart ist es fünf nach zwölf

  • von Hannah Möller
Bildungsprotest
Gute Bildung fängt im Kleinen an: Lego-Protest auf echter Demo
© Hannah Möller / stern
Personal fehlt in Schulen und Kitas, Unterrichtsausfälle, Schüler ohne Abschluss: Das Bildungssystem in Deutschland braucht eine gewaltige Reform, fordert die Bewegung "Bildungswende jetzt". Ein Demobesuch in Stuttgart. 

Um exakt fünf nach 12 sollte ein Schulgong auf dem Schloßplatz im Zentrum von Stuttgart erklingen – doch die Technik versagte, was manche Teilnehmer als Sinnbild für die Bildungskrise nahmen. Immerhin, einige Minuten später war er zu hören. Derweil skandierten etwa 250 Erzieherinnen, Eltern, Lehrerinnen: "Hoch die Hände, Bildungswende." Später machen Kinder, Schüler, Mütter und andere Demoteilnehmende mit beim Kitaplatz-Suchspiel: Wie bei der Reise nach Jerusalem gibt es mehr Spielerinnen als Stühle, die für die Kitaplätze stehen.

Lustiges Spiel mit ernstem Anlass

Hier nur ein lustiges Spiel, doch tatsächlich fehlen allein in Stuttgart etwa 3000 Kita-Plätze, weshalb die ausgeschiedenen Spieler einen Zettel auf den Rücken geklebt bekommen: 1 von 3000. Die Stimmung am Rande des Schloßplatzes ist gut, auch wenn die Redebeiträge ein düsteres Bild von den Bildungseinrichtungen im Land aufzeigen. Doch die rund 250 Menschen bestärken sich gegenseitig, laut zu werden.

Deutschland stecke in einer der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik, kritisiert das Bündnis: Knapp 50.000 junge Menschen verließen 2021 die Schule ohne Abschluss, bundesweit fehlten in den kommenden zwölf Jahren voraussichtlich 160.000 Lehrerinnen und Lehrer, in den Kitas fehlten schon jetzt hunderttausend Plätze und 300.000 Erzieherinnen und Erzieher.

Unbesetzte Lehrerstellen träfen auf ein veraltetes Bildungssystem. Viele Schülerinnen und Schüler sähen sich selbst als Problem, kritisiert die ehemalige Schulleiterin Corinna Heller. "Und das ist für mich das größte Problem. Es braucht Menschen, die das in den Schulen ändern", fordert sie. Die Demonstranten klatschen zustimmend, Trillerpfeifen ertönen. Ein Mann hält ein Plakat hoch: "Wir müssen reden" steht darauf.

Das Bildungsbündnis fordert ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für Investitionen in Schule und Kitas, eine Ausbildungsoffensive für Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher, eine Überarbeitung des Lehramtsstudiums, eine bessere Verzahnung mit der Praxis sowie ein Bildungsgipfel mit den Regierungschefs der Länder, um über Auswege aus der Bildungskrise zu diskutieren.

An den Rand "gefördert"

Luk Bornhak besuchte eine Förderschule. Er sollte danach in eine berufsvorbereitende Maßnahme für den ersten Arbeitsmarkt, das erste Angebot für Menschen mit Behinderung in Stuttgart.  Allerdings: "Sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollen", erzählt er im Gespräch mit dem stern. Er sei in der Klasse an den Rand gesetzt worden und sollte sich allein mit Excel-Tabellen beschäftigen. Seine Förderschule musste er der geistig gehandicapte junge Mann ohne Abschluss verlassen.

Damit ist er nicht allein. Knapp 73 Prozent der Förderschüler verlassen die Schule ohne anerkannten Abschluss, erzählt er in seiner Rede auf dem Schloßplatz. "Dies ist der Beginn einer Exklusionskette", so Bornhak. Viele Betroffene hätten mangels Förderung kaum Chancen, auf dem Arbeitsmarkt einen Job zu bekommen und landen am Ende in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wo sie einen Stundenlohn von 1,35 Euro verdienen. "Das ist nicht zeitgemäß und war es noch nie!", ruft Bornhak, die Menge klatscht ihm zu. "Wir müssen uns gegen dieses System wehren."

Der 29-jährige Tim Wahl, der in einer Stuttgarter Kita im Leitungsteam arbeitet, erzählt von seiner Erfahrung als Praktikant in einem anderen Kindergarten: "Ich war die Person, die am Tag am längsten da war, die Fachkräfte waren ausgebrannt." Nun ist er in einer Kita tätig, die glücklicherweise genügend Personal habe. Sonst hätte er sich überlegt, die Branche zu wechseln, berichtet Wahl am Rande der Veranstaltung. 

"Das ganze Schulsystem ist auf Kante genäht", kritisiert Nadine Candelaresi, 41. In diesem Schuljahr müssten ihre zwei Kinder an einem Nachmittag pro Woche zu Hause lernen, obwohl sie eine Ganztagesschule besuchen, doch dort fehle es an Lehrern. "Ich habe das Glück, dass ich im Homeoffice arbeite." Andere Eltern hingegen müssten jonglieren. Hinzu kämen Unterrichtsausfälle: Ein halbes Jahr lang keinen Französischunterricht – "so etwas passiert häufiger".

Oehmichen
Nora Oehmichen, Bundesvorsitzende von "Teachers for future"
© Hannah Möller / stern

Schulsystem in desolatem Zustand

Nora Oehmichen, Gymnasiallehrerin in Ludwigsburg und Bundesvorsitzende von "Teachers For Future", erklärt in ihrer Rede auf dem Schloßplatz, was die Bildungskrise mit Schülern und Lehrern macht: Etwa 30 Prozent der Schülerschaft und der Lehrkräfte hätten inzwischen mit Stresssymptomen bis hin zum Burnout zu kämpfen. Auch sie selbst habe schon über einen Ausstieg aus dem Beruf nachgedacht. Oehmichen hat mittlerweile ihr Deputat von 15 auf acht Unterrichtsstunden reduziert.

Das Schulsystem sei schon lange in einem "desolaten Zustand". Deshalb habe sich das Bündnis "Bildungswende jetzt" aus knapp 200 Initiativen – von Fridays for Future über Kitastrophe und der GEW – zusammengeschlossen, um Druck auf die Politik zu machen.

Die Mehrheit der Schulabgänger fühle sich durch das Schulsystem nicht ausreichend auf die Zukunft vorbereitet. Schüler würden sagen: "Wie ich eine mathematische Gleichung auflöse, das weiß ich. Aber wie ich mit den existenziellen Problemen von heute und morgen umgehen kann – kein Plan!" Kaum verwunderlich, so die Lehrerin, wenn junge Menschen "zunehmend zu vermeintlich einfachen Lösungen wie zum Rechtsextremismus tendieren".  

Der britische Bildungsexperte Ken Robinson vergleiche die Schule mit Fabriken des 19. Jahrhunderts: "Wir sortieren junge Menschen in altersgleiche Abteilungen, teilen sie in Fächer ein, takten sie in 45 Minuten, die Schulglocke bestimmt wie einst die Fabrikglocke den Arbeitstakt. Wir ziehen Fließbandarbeiter*innen an, dort wo das Schulgesetz eigentlich mündige Bürgerinnen und Bürger vorsieht. Hier hat unser Bildungssystem auf ganzer Linie versagt", sagt Oehmichen in ihrer Protestrede.

Schülerinnen und Schüler sollen Selbstwirksamkeit lernen

Was es stattdessen braucht? "Freiräume für Schülerinnen und Schüler, wo sie ohne Fächeraufsplitterung, ohne Notendruck arbeiten können, an Themen, die ihnen unter den Nägeln brennen und die gesellschaftlich relevant sind", fordert Oehmichen. Das sei auch im Nationalen Aktionsplan Bildung als langfristiges Ziel verankert. Die Bundesregierung habe sich verpflichtet, diese Ziele umzusetzen. Es reiche nicht, wenn im Gemeinschaftsunterricht Demokratie in der Theorie gelehrt und abgefragt werde; Schüler müssten mit eigenen Projekten die Erfahrung machen: "Ich kann was bewegen".

Dabei kann es zum Beispiel um die Erweiterung eines Fahrradweges im eigenen Ort gehen. So würden Schülerinnen und Schüler Selbstwirksamkeit lernen. "Und dann haben sie auch Vertrauen ins System", so die Pädagogin.

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