Was ist ein Märchen gegen die Wirklichkeit? In den Zeiten des Rattenfängers von Hameln ging es idyllisch zu im Vergleich zu dem, was Maos Heimatprovinz Hunan in diesen Tagen erlebt. Da der Dongting-See aufgrund des Dauerregens über seine Ufer tritt, haben zwei Milliarden Mäuse und Ratten ihre gewohnte Umgebung verlassen und suchen Unterschlupf und Nahrung auf Reisfeldern, an Dämmen und Deichen - und zerstören diese. Szenen wie in Horrorfilmen spielen sich ab: Bauern schlagen mit Stöcken und Spaten auf die Ratten. Andere Dorfbewohner versuchen, sie mit Fischnetzen zu fangen. "So viele Ratten habe ich noch nie gesehen", sagt Bauer Yang Yougen im Gebiet des Yiyang-Datong-Sees.
Experten sprechen von der größten Rattenwanderung in der Geschichte der Menschheit. Und sehen in dem, was in diesen Tagen aufgrund der Überschwemmungen passiert, nur die Spitze des Eisbergs. Viele Gebiete entlang dem Jangtse-Fluss und im Westen Chinas leiden unter der Plage. So sind in der Provinz Qinghai ein Drittel des Graslands von einer Mäuseart aufgefressen worden, die die Wissenschaftler Ochtona daurica pallas nennen.
Ratten kommen mit dem Zug
Schuld ist der Mensch. Er zerstört das ökologische Gleichgewicht. Von den Tieren, die traditionell Mäuse und Ratten gefressen haben, gibt es immer weniger: Die Schlangen werden in China als Delikatesse verspeist. Die natürliche Umgebung von Füchsen und Habichten fällt dem boomenden Häuserbau zum Opfer. Eulen und Katzen sterben an schlechtem Rattengift.
Laut Zhang Meiwen, einem Forscher für subtropische Landwirtschaft an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, gehört auch die in China gefeierte neue Eisenbahn-Verbindung nach Tibet zu den Ursachen: "Über die Schienen finden neue Mäusearten ihren Weg auf die Qinghai-Tibet-Hochebene", sagt er. "Zugverbindungen sind traditionell Brutstätten für Mäuse und Ratten." Die Rache der Ratten, so Zhang: Sie können die Bahnlinie fernab der Zivilisation beschädigen, da sie sich Heimstätten graben wo immer sie können.
Rattenplage? Einfach aufessen!
Die Zeitung Informations-Zeiten aus der südchinesischen Provinz Kanton behauptet, die große Zahl von Mäusen aus Hunan würde jetzt in Kanton das Speiseangebot in den Restaurants erweitern. Einer ihrer Reporter will beobachtet haben, wie Lastwagen aus Hunan voll mit Feldmäusen auf dem Markt Baiyun von Guangzhou eingetroffen seien. Die Kantonesen, so sagt man, essen alles was vier Beine hat und kein Tisch ist, alles was schwimmt und kein Schiff ist und alles was fliegt und kein Flugzeug ist. Mäuse gelten hier als Delikatesse. Diese Speise ist allerdings seit dem Ausbruch der Sars-Seuche 2003 aus Hygienegründen verboten.
Allerdings bevorzugen die Kantonesen Frischfleisch, sie essen gewöhnlich nur Tiere, die sie vorher lebend im Restaurant begutachtet haben. He Huaxian, stellvertretender Direktor des Seuchenkontrollzentrums in Hunan, hält deshalb den Bericht der Zeitung für falsch: "Es ist schwierig, Ratten lebend zu fangen, schon gar nicht kriegt man sie in großen Zahlen." Rattenfänger wie der aus Hameln müssen in Hunan erst noch geboren werden.
Wissenschaftler Zhang empfiehlt den Rattenfängern aus Hunan eine weniger wundersame Methode: Sie sollen umweltfreundliches Rattengift auslegen anstatt solchem, das auch die Katzen, Eulen und Füchse tötet.