Ab drei Uhr, spätestens, liegt Thomas Knauf wach, jede Nacht. Mal weckt ihn eine Boeing 757, mal eine uralte MD 11, deren lautes Hecktriebwerk nur von den Turbopropellern noch älterer Post-Maschinen übertroffen wird. Bei den russischen Schwertransportern vom Typ Antonov bebt sein Haus sowieso. "Man darf aber auch die kleinen Quiekser nicht unterschätzen", sagt Knauf. Thomas Knauf, 46 Jahre alt, kennt alle Flugzeugtypen im Schlaf. Er könnte damit bei "Wetten dass ...?" auftreten oder gleich bei offenen Lärmschutzfenstern schlafen. Auf 20 Dezibel mehr oder weniger kommt es in seinem Schlafzimmer schon lange nicht mehr an. Noch vor Monaten hatte er trotzdem manchmal gehofft, dass es wenigstens nicht mehr schlimmer kommen könne. Doch seit die DHL im Frühjahr ihr europäisches Luftdrehkreuz von Brüssel nach Leipzig verlegt hat, hilft ihm auch dieser schwache Trost nicht mehr in den Schlaf.
Stattdessen zählt er nun bis zu 60 Frachtflieger, die ab Mitternacht mit ihren Landescheinwerfern sein Kopfkissen abtasten und kurz darauf wieder starten, von seinem Nachbargrundstück gewissermaßen. Tagsüber führt Knauf eine Gärtnerei und ist nebenbei Ortsvorsteher von Kursdorf bei Leipzig. Umgeben von Autobahnen und den Rollfeldern des Flughafens Leipzig-Halle ist sein Dorf vermutlich der lauteste und durch Umweltbelastung jeder Art ungesündeste Ort Deutschlands. Erst vorige Woche hat das Bundesverwaltungsgericht die 24-Stunden-Betriebserlaubnis des Flughafens bestätigt. Neben der Post-Tochter DHL wollen auch Lufthansa Cargo und andere Gesellschaften nach Leipzig. Uneingeschränkte Bedingungen für Frachtflugzeuge sind selten genug in Deutschland. In Frankfurt am Main wird gerade um 17 Starts und Landungen pro Nacht gestritten. Darüber können die Leute in Kursdorf nur müde lächeln.
Letzte Ruhe auf einer Autobahnraststätte
Bei ihnen wird der Lärm nicht einmal mehr gemessen. Vor ein paar Monaten hat die Flughafen GmbH das Haus abreißen lassen, in dem die offizielle Messstation stand. In Kursdorf ist es ohnehin lauter, als es jeder Grenzwert für menschliche Siedlungen erlaubt. Dafür reicht allein das sechsspurige Dauerbrummen der A 14, das sich noch auf dem Friedhof in der Dorfmitte anhört, als hätten die alten Kursdorfer ihre letzte Ruhe auf einer Autobahnraststätte gefunden. Bei Westwind mischt sich die A 9 dazu, bei Ostwind die Teststrecke von Porsche - aber Ostwind ist eher selten und dann fast erholsam. Startet ein Flugzeug von der Piste im Norden, wird es insgesamt nur etwas lauter, als wenn einer der täglich bis zu 100 Züge vorbeidonnert. Bei der neuen Start- und Landebahn Süd kommt es dagegen darauf an.
Ihr Vorfeld reicht so nah an Kursdorf, dass man es von manchen Vorgärten mit dem Gartenschlauch sprengen könnte. Die zehn Meter hohe Lärmschutzwand wirft vor allem Schatten und bestenfalls Auto-und Eisenbahngeräusche aus dem Norden ins Dorf zurück. Laufen dahinter die Triebwerke eines modernen Flugzeugs warm, spürt man den Höllenlärm im ganzen Ort körperlich, wie die Bässe bei einem Rockkonzert. Bei den älteren Maschinen, mit denen die Amerikaner in Leipzig ihre Golfkrieger zwischenlanden und die Post ihre Pakete, zittert die schwere Stahltür im Gemeindebüro wie bei einem Erdbeben. Aber fast noch erstaunlicher als der Umstand, dass hier überhaupt noch 50 von einst knapp 300 Menschen leben, ist deren pragmatischer Umgang damit.
"Das Leben ist kein Wunschkonzert"
"Das Leben ist kein Wunschkonzert", sagt zum Beispiel Margrit Weber, die schon deshalb nicht einfach wegziehen kann, weil sie mit ihrer großen Familie ein Drei-Generationen-Haus bewohnt. "Selbst wenn wir wollten", sagt sie, "finden wir nichts Passendes." Fast alle Nachbarn haben den Ort in den vergangenen Jahren verlassen - sie fehlen Margrit Weber beinahe mehr als Schlaf und Ruhe. Sie fühlt sich "verraten und verkauft" für ein paar Arbeitsplätze. "Aber sollen wir deshalb den ganzen Tag jammern und heulen?" Was im Westen Deutschlands zu ewigen Rechtsstreitigkeiten geführt hätte, zu Massenprotesten wie einst gegen die Startbahn West, ertragen die Kursdorfer seit Jahren mit einer Mischung aus Achselzucken und Trotz. Wie über ein Naturereignis sprechen sie vom Flughafen, der den Ort Stück für Stück umzingelt und leer gefegt hat, der ein Tor zur Welt sein will, aber ihr Dorf von den Nachbarorten abgeschnitten hat. Wohin man auch hört, sofern man überhaupt etwas hört oder noch auf Einheimische trifft, das Gleiche: Man könne es ja doch nicht ändern ... Schließlich gehe es um Arbeitsplätze ... Es hätte auch noch schlimmer kommen können ...
Zu DDR-Zeiten war auf dem Flughafen eigentlich nur zur Leipziger Messe richtig Betrieb. Den Rest des Jahres diente das Terminal als Autobahnkiosk. Auf der alten Piste übten Fahrschüler, und Kinder fuhren Rad. Als hier in den 80er Jahren ein paarmal eine Concorde landete, war das auch für die Kursdorfer eine Sensation. Erst nach der Wende stiegen die Passagierzahlen dramatisch: Die anfangs noch sogenannten Aufbauhelfer flogen ein und die Einheimischen in alle Welt. Man träumte von einem "Mitteldeutschen Interkontinentalflughafen", baute Terminals und die neue Start- und Landebahn Nord. Bei jedem feierlichen Spatenstich und öffentlichen Investitionen von insgesamt mehr als einer Milliarde Euro versprachen Politik und Flughafen Tausende Arbeitsplätze. Aufschwung Ost, Zukunft.
Von Jahr zu Jahr lauter
"Jedes Glas Sekt tat weh", sagt Margrit Weber. Aber wie alle ostdeutschen Hausbesitzer hatten auch die Kursdorfer nach der Wende erst mal mit sich zu tun, renovierten ihre Häuser und renovierten sie nach den ersten Schallschutzmaßnahmen gleich noch mal. Es wurde zwar jedes Jahr lauter, war aber gerade noch auszuhalten. Es regnete Kerosin und stank, aber Zuzüge und Neubauten gab es selbst dann noch, als der schleichende Tod des Dorfes kaum mehr zu ignorieren war. Vor drei Jahren hat Margrit Weber aufgehört, die Dorfchronik zu führen. Das letzte Kapitel von fast 700 Jahren Kursdorf war der Berufsschullehrerin zu traurig. Gerade macht der Jugendklub dicht, weil niemand mehr für zwei Jugendliche 70 Euro Betriebskosten aufbringen kann. Noch weniger Fenster leuchten jetzt abends tapfer gegen die Lichtblitze vom Tower an. Die Freiwillige Feuerwehr musste ihre Wehrfähigkeit aus Mangel an Mitgliedern abmelden, aber dient nach wie vor als Treffpunkt für Familienfeiern. "Der Zusammenhalt im Dorf ist fast besser als früher", sagt Jürgen Gröthert.
Gröthert, 68, und seine Frau Brigitte, 58, managen den FSV Kursdorf 1958, der noch immer jeden Samstag in der dritten Kreisklasse gegen Dorfmannschaften aus der Umgebung antritt, auch wenn inzwischen fast die ganze Mannschaft im Exil lebt. Jürgen war vor 50 Jahren Gründungsmitglied. Brigitte hält den Laden zusammen und wechselt wöchentlich die Aushänge an der Schautafel des Vereins, die wie ein Fremdkörper auf dem Parkplatz des Flughafens steht. Daneben wirbt ein Plakat mit der riesigen Schnauze eines Jumbos für Flughafenführungen: "So nah", steht da, "Sie werden den Kopf einziehen." Grötherts müssen dafür nur in ihren Garten. Jeden Vormittag füttern sie dort bis zu 20 Katzen, die ehemalige Kursdorfer zurückgelassen haben, bauen Erdbeeren und Tomaten an - und essen sie auch, obwohl sich auf der Regentonne nach jedem Vollschub ein schimmernder Film aus Kerosin bildet. "So sparen wir das Öl am Gurkensalat", sagen sie und haben ihre Anlage "Erholung an der Rollbahn" getauft.
Segen und Fluch, Hoffnung und Abschied
Die Pachtgrundstücke der letzten fünf Kleingärtner gehören schon dem Flughafen, genau wie der Rasen des Fußballplatzes oder der Arbeitsplatz des Liberos. Für 2000 Euro im Jahr sponsert der Flughafen die Trikots des FSV. In der Autowerkstatt Bayer werden die Mietwagen gewaschen, die abends durch das Gespensterdorf jagen. Der Flughafen ist Segen und Fluch, Hoffnung und Abschied. Und jeder hier kennt zu viele Arbeitslose persönlich, um laut über die sächsische Politik der Jobs um jeden Preis zu mäkeln. Tatsächlich reden heute selbst Politiker in Sachsen nicht mehr von einem Interkontinentalflughafen. Dieser Traum war schon geplatzt, als im Jahr 2003 der gigantische Zentralterminal mit Shoppingmall und endlosen Rollbändern eröffnet wurde, der sich bis an die Autobahn streckt. Seitdem verfügt Kursdorf über einen ICE-tauglichen Fernbahnhof, an dem kein ICE hält, ein sechsgeschossiges Parkhaus mit 2700 meist freien Parkplätzen und eine Kapazität von 4,5 Millionen Fluggästen jährlich, die nur etwa zur Hälfte genutzt wird.
Im Sommerflugplan mussten wieder 20 Flugziele gestrichen werden. "Aber unser operatives Geschäft trägt sich", sagt Flughafendirektor Eric Malitzke. Er sitzt in seinem Büro über dem Vorfeld und klingt fast genauso trotzig wie die letzten Kursdorfer: Beim Autobahnbau werde schließlich auch nicht ständig gefragt, ob sich öffentlich finanzierte Infrastruktur rechne. Weil das Passagiergeschäft die erhofften Jobs und Zahlen nicht bringt, setzt Leipzig nun alle Hoffnung auf neue Globalisierungstrends: Fracht vor allem, aber auch Kriegs- und Katastrophenlogistik, für die hier die Firma Ruslan Salis unter anderem als Nato-Dienstleister ihre Europabasis mit den größten Transportmaschinen der Welt bereithält und regelmäßig die Antonov- Triebwerke testet. Dem Flughafendirektor muss ein Stein vom Herzen gefallen sein, als das Bundesverwaltungsgericht vergangene Woche die Nachtflüge der Frachtflieger für rechtmäßig erklärte. Viel zu spät hatte sich noch ein wenig Widerstand gegen den Lärm formiert, worüber auch Eric Malitzke staunt: "Im Westen wäre das alles weniger persönlich gelaufen, eher juristisch."
Schicksal von Kursdorf besiegelt
"Turnhallenveranstaltungen" nennt Malitzke die Treffen, bei denen er den Anwohnern der Flugschneisen immer wieder sein Schallschutzprogramm erklärt, das angeblich "alles übersteigt, was die Fluglärmgesetze fordern", und ihnen die Zukunft ausmalt: Mit 4000 Jobs werde der Flughafen noch 2008 eine der größten Arbeitsstätten der Region. Bei immer noch knapp 20 Prozent Arbeitslosigkeit erstickt dieses Argument schnell jeden Protest. Kaum hatte die Post im November 2004 ihre Absicht erklärt, ihr Luftdrehkreuz nach Leipzig zu verlegen, berichtete die Sächsische Staatskanzlei stolz, Ministerpräsident Georg Milbradt habe das Ansiedlungsprojekt bereits im Februar 2003 zur Chefsache gemacht "und alles getan, um DHL nach Leipzig zu holen". Unter dem Decknamen "Pegasus" und "höchster Vertraulichkeit" erfüllte die Landesregierung alle Anforderungen der DHL. Dazu gehörte "insbesondere der Bau einer zweiten Landebahn" und eine mit 500 Millionen Euro verbürgte Garantie zur Aufrechterhaltung des 24-Stunden-Flugbetriebes.
Diese Bürgschaft hat die EU-Kommission gerade aus Wettbewerbsgründen gekippt, sie wäre fällig gewesen, wenn das Bundesverwaltungsgericht jetzt zugunsten der Anwohner und gegen die Nachtfliegerei entschieden hätte. So aber ist nun das Schicksal von Kursdorf besiegelt. Gärtnermeister Knauf nimmt es gelassen. Er ist der Einzige im Ort, der schon früher geklagt hat - nicht gegen den Lärm, sondern gegen die Entschädigungsbedingungen. Es müsse ja niemand wegziehen, argumentiert die Flughafen GmbH und kauft den Leuten im sogenannten Übernahmegebiet ihr Grundstück lediglich zum Verkehrswert ab. 28 Euro hat ein Gutachter für den Quadratmeter Kursdorf festgelegt - weil es so laut ist. Für die alten Häuser gibt es oft keinen Cent. Nicht alle können dafür woanders neu bauen oder müssen bleiben wie Knauf, dessen Gewächshausanlage im Havariefall Tag und Nacht Betreuung braucht. Mit den Mietern, die es in Kursdorf auch noch gibt, hat bisher noch gar niemand gesprochen, denn der Deal gilt nur für lastenfreie Grundstücke. Sie aber sind in diesem Sinne Lasten.
"Absolute Ruhe" in Neu-Kursdorf
Thomas Knauf gewann seinen Prozess im Sommer 2007. Seitdem wartet er auf ein Angebot der Flughafen GmbH. "Psychologische Kriegsführung" nennt er diese Aussitztaktik und stellt nüchtern fest, "dass es doch immer noch schlimmer und täglich lauter ..." Er muss kurz unterbrechen, weil auf der Nordbahn eine Condor- Maschine durchstartet, die dort schon den ganzen Tag Landeanflüge übt. Auf der anderen Strassenseite schwebt gerade eine Erdkugel vorbei, die über die Lärmschutzwand ragt und zum Heck eines amerikanischen Flugzeuges gehört. Die Passagiere sehen alle gleich aus und vertreten sich in einem abgeschirmten Bereich die Beine, solange ihre Flieger betankt und mit neuen Cola-Vorräten beladen werden. Die Charter-Holding Global Aero Logistics transportiert im Auftrag des Pentagon über Leipzig-Halle fast alle GIs nach Afghanistan und in den Irak. Firmensprecher Steve Forsyth schwärmt von den "exzellenten Möglichkeiten" und den "günstigen Verträgen", die man hier ausgehandelt habe. Solche Kapazitäten biete kein anderer europäischer Flughafen.
Vor allem aber liefern die Soldaten dem Flughafen neben ein paar Millionen Euro Einnahmen einige Hunderttausend Passagiere mehr im Jahr für die Aufschwung-Ost-Statistik - und stellen das Märchen von der deutschen Nichtbeteiligung am Irak-Krieg infrage. Die meisten Kursdorfer haben allerdings andere Sorgen, ihren Hof inzwischen an den Flughafen verkauft oder ein Tauschgrundstück in Altscherbitz bekommen. Dort sitzen sie nun auf engen, baumlosen Parzellen und schauen auf die neue Terrasse der alten Nachbarn. Neu-Kursdorf nennen sie es selbst und "möchten nicht klagen", wie es Jürgen Gutsche ausdrückt. Auch hier gibt es wieder eine Lärmschutzwand, die ihre Siedlung von der Landstraße zwischen Leipzig und Halle abschirmt. Den Flughafen, jetzt etwa zwei Kilometer entfernt, hören sie immer noch deutlich genug, um sich wie zu Hause fühlen. "Für uns", sagt Jürgen Gutsche, "ist es die absolute Ruhe."