Wer verstehen will, wie die Wildpoldsrieder ticken, der muss die Geschichte mit den Kronkorken kennen. Die geht so: Vor zwölf Jahren hatten die Allgäuer Brauereien die Gemeinden der Region zum Sammeln von Kronkorken aufgerufen. Dem Gewinner winkte: eine Holzparkbank. "Wir haben damals alle wie verrückt wochenlang die ganze Gegend nach diesen Kronkorken abgesucht", erinnert sich Susi Vogl, die im Rathaus von Wildpoldsried arbeitet. "Wir wollten schließlich gewinnen!"
Das haben sie geschafft: Die hölzerne Trophäe steht heute am Ortseingang. Wenn es um Wettkampf und ums gemeinsame Gewinnen geht, macht den Bürgern von Wildpoldsried so schnell niemand etwas vor. Gerade mal 2500 Menschen leben in der Gemeinde zehn Kilometer vor den Toren Kemptens, eingebettet zwischen sanften, grünen Hügeln, auf denen milchkaffeebraune Kühe weiden und von denen man in der Ferne die Alpen sieht. Seit mehr als 800 Jahren gibt es das Dorf schon, seine Bewohner sind verwurzelt mit dem Land, man kennt sich, man hält zusammen.
Dann kam die Sache mit dem Strom: Im August rief die ARD zum Sparduell auf. "Hilfe, alles wird teurer" hieß die Sendung, bei der zwei Gemeinden gegeneinander um die Wette Strom sparen sollten. Es traten an: Schönau, eine kleine Gemeinde in der Eifel, und - natürlich - Wildpoldsried. Das Dorf hatte nicht nur durch seinen Wettkampfgeist, sondern bereits durch einige Umweltpreise von sich reden gemacht - die perfekte Bühne für die Fernsehleute.
Der Radikalverzicht
Eine Woche lang wurde in beiden Dörfern der durchschnittliche Stromverbrauch gemessen, dann begann der Wettkampf. Die Allgäuer legten mit vollem Tempo los. Die siebenköpfige Familie Heisl beispielsweise praktizierte den Radikalverzicht: Die zehnjährige Elisa durfte sich nicht mehr die langen braunen Haare föhnen, der 16-jährige Dominik musste aufs Fernsehen verzichten und seine Schwester Annika, 15, aufs abendliche Chatten mit der Freundin. Familienmutter Monika Heisl ließ derweil Staubsauger und Bügeleisen im Schrank, die Familienwäsche blieb im Korb und die Herdplatte öfter mal kalt.
Auch Roger Weber, der Wirt des Gasthofs "Hirsch" schräg gegenüber vom Rathaus, machte bei der freiwilligen Stromabschaltung mit. Normalerweise wirft Weber, ein kräftiger Mittdreißiger mit kahlem Haupt und blondem Spitzbart, jeden Mittwoch im Sommer seinen riesigen 18.000-Watt-Elektogrill an und veranstaltet einen großen Barbecue-Abend. In der Duell-Woche aber ließ er die Küche kalt: "Nur die Brotschneidemaschine und eine Lampe waren noch an", erinnert sich der "Hirsch"-Chef.
Statt zu Steak und Rippchen rief Weber zur Brotzeit im Kerzen- und Fackelschein - und prompt quoll sein Biergarten über vor Wildpoldsriedern. Bei Brot und Wurstsalat tauschten sie sich über ihre immer radikaleren Stromsparideen aus. Gäste, die länger blieben, mussten abends im Dunkeln nach Hause tapsen: Bürgermeister Arno Zengerle hatte den ultimativen Spartrumpf gezogen und die nächtliche Straßenbeleuchtung ausschalten lassen.
Am Badeteich statt vor der Glotze
Die Dorfbewohner störten sich nicht dran, im Gegenteil. "So was sollte man eigentlich häufiger machen", findet Susi Vogl. Noch heute schwärmt sie von der ungewöhnlichen Sommerwoche, als die Kinder am Badeteich statt vor der Glotze hingen. Monika Heisl erinnert sich an die Abende, an denen die Familie gemeinsam im Kerzenschein Rommé oder Cluedo spielte oder selbst Musik machte. "Ach", seufzt Heisl dann, "eigentlich war's ohne Strom ganz schön."
Wenn Bürgermeister Zengerle so etwas hört, lächelt er milde. "Auch wenn die Leute bei dem Duell begeistert mitgemacht haben, war das natürlich kein nachhaltiges Energiesparen", sagt er heute, zwei Monate später. Der Bürgermeister sitzt in seinem Büro, ein kleiner elektrischer Zimmerbrunnen plätschert beruhigend im Hintergrund. Sicher, räumt Zengerle ein, viele Bürger seien jetzt sensibilisiert beim Thema Energie. Aber irgendwann gehe das normale Leben eben weiter. Dann müsse man die Straßenbeleuchtung wieder anschalten, Essen kochen und Wäsche waschen. "In der Woche nach dem Wettbewerb ist der Stromverbrauch fast wieder auf den alten Wert angestiegen."
Zengerle trinkt einen Schluck Kaffee aus einer gelben Tasse: "Schöpfe neue Energie! Wildpoldsried - innovativ und richtungsweisend" steht in schwarzen Lettern darauf. Schon lange vor dem Stromsparwettbewerb hat Zengerle begonnen, seine eigene Energievision umzusetzen - und die ist wesentlich ehrgeiziger, als sich kurzfristig fürs Fernsehen ein paar Kilowatt abzuknapsen. Wegen dieser Vision wurde auch die ARD auf Zengerles Gemeinde aufmerksam.
Ökologie selber machen
Um seinen Bürgern klarzumachen, was ihn persönlich umtreibt, greift der CSU-Mann zum Schraubstock. Zumindest bildlich: Zengerle nimmt seine Hände auseinander und tut so, als wollte er Energieverschwendung und Umweltverschmutzung zwischen ihnen zusammendrücken. "Wir müssen einerseits unseren Energieverbrauch dauerhaft verringern" - Zengerles linke Hand schraubt sich in die Mitte - "und andererseits unsere Energie umweltfreundlicher erzeugen" - jetzt verkleinert auch die rechte Hand die Lücke. So eine Sprache versteht jeder hier im Dorf: Ökologie ist etwas zum Anpacken, zum Selbermachen. Etwas, auf das man hinterher genauso stolz sein kann wie auf einen gewonnenen Wettkampf. Eigentlich habe das Umweltbewusstsein den Leuten hier schon immer im Blut gelegen, glaubt Zengerle. "Nicht über seine eigenen Verhältnisse leben zu dürfen, das ist hier im Ländlichen ganz tief in den Menschen verwurzelt."
Umso besser, wenn man dabei auch noch Geld verdienen kann. So stehen seit einigen Jahren sieben Windräder auf dem Haarberg, dem Höhenzug hinterm Dorf. Sie gehören zu einem privaten Bürger windpark, an dem sich 180 Wildpoldsrieder beteiligt haben. Für jede eingespeiste Kilowattstunde erhalten die Betreiber im Schnitt rund sieben Cent - bei etwa 13,5 Millionen Kilowattstunden kam da im vergangenen Jahr knapp eine Million Euro zusammen. Die Bürger profitieren davon, dass der Staat die Energieversorger verpflichtet, Windstrom zu höheren Preisen abzunehmen als konventionellen Strom.
"Allein die fünf Anlagen, die in unseren Gemeindegrenzen stehen, liefern zweieinhalbmal mehr Strom, als ganz Wildpoldsried verbraucht", sagt Zengerle stolz. Weil er damals vor der Erteilung der Baugenehmigung mit Protesten gerechnet hatte, ließ er die Wildpoldsrieder befragen. Heraus kam, dass 92 Prozent für die Windmühlen an dem prominenten Standort waren. Auch nach dem Bau liegt die Zustimmung noch bei 80 Prozent.
"Anfangs waren die Leute skeptisch"
Erfolgreich war auch die Dorfheizung, die der rührige Ortsvorsteher im Dorfzentrum installieren ließ. Ein kleines Blockheizkraftwerk im Untergeschoss der Raiffeisenbank verfeuert nun CO₂-neutral Holzpellets und wärmt damit über ein unterirdisches Leitungssystem nicht nur Kirche, Rathaus und Schule, sondern auch den Gasthof, ein Seniorenheim und neun private Gebäude. "Wer angeschlossen ist, der zahlt heute weniger als die Hälfte der üblichen Heizkosten", sagt Zengerle. "Anfangs waren die Leute zwar skeptisch, aber jetzt wollen alle mitmachen."
Demnächst soll die Dorfheizung auch durch Biogas befeuert werden. Ein Landwirt aus der Gegend plant gerade, eine vier Kilometer lange Gaspipeline nach Wildpoldsried zu legen. "Dann können wir noch mehrere Straßenzüge ans Netz anhängen", freut sich Zengerle. Wegen des modernen Energiekonzepts bekommt er inzwischen ständig Besuch: Mal sind es Delegationen aus Kroatien oder Japan, mal schauen ein paar grüne Kreistagsabgeordnete vorbei. "Denen sag ich dann gleich, dass ich tiefschwarz bin." Zengerle lacht. Nachhaltigkeit sei doch etwas zutiefst Konservatives, findet er. "Was kann bodenständiger sein, als Energie in der Region zu erzeugen?"
Beispiele für diese Einstellung findet man überall im Ort: Zwei Wasserräder treiben das Sägewerk und die Mühle im Dorf an, die meisten Bauern ließen Photovoltaik- Anlagen auf ihren Ställen installieren, und der Bürgermeister heizt mit Holzspänen. Familie Heisl hat seit fünf Jahren Sonnenkollektoren für heißes Wasser auf dem Dach, aus zwei Gründen. "Ich will meinen Kindern keine zerstörte Umwelt zurücklassen", sagt die Mutter. "Und wir sparen mit den Kollektoren pro Jahr 500 Liter Heizöl", ergänzt Ehemann Manfred. Diese Mischung aus Überzeugung und Pragmatismus geben die Eltern auch an ihre Kinder weiter. "Das Kostenargument leuchtet ihnen sofort ein", sagt Monika Heisl. "Der große Klimazusammenhang kommt dann später."
Kostenlose Thermografie-Untersuchung
Eigentlich könnte es jede Gemeinde wie Wildpoldsried machen, glaubt Bürgermeister Zengerle: "Man braucht nur eine Handvoll Spinner, die das Ganze vorantreiben und was bewegen wollen." Oberspinner Zengerle hat noch einiges vor: Eine Energieberatung gibt es für Interessierte ohnehin schon kostenlos im Rathaus, und in diesem Winter soll jedem Hausbesitzer auch noch eine Thermografie-Untersuchung spendiert werden, die zeigt, welche Dächer und Wände besser gedämmt werden können.
Mit einem Hersteller von besonders sparsamen Heizungspumpen hat die Gemeinde einen Sondertarif ausgehandelt. Jetzt sollen rund 1000 Pumpen im Ort ausgetauscht werden. "Weil die Geräte den ganzen Tag laufen, spart man mit den neuen ganz leicht um die 100 Euro im Jahr", sagt Zengerle. "Für den Hausbesitzer hat sich der Austausch in zwei Jahren amortisiert, und der Stromverbrauch der Gemeinde fällt dadurch um bis zu zehn Prozent."
Theoretisch hätten sich die Wildpoldsrieder allein mit diesen Geräten das ganze Stromsparduell ersparen können. Denn als die ARD nach sieben Tagen Wettkampf das Ergebnis verkündete, hatten die Bayern auch nur 8,7 Prozent weniger Strom verbraucht, die Konkurrenten aus der Eifel lagen mit 8,2 Prozent knapp dahinter.
Die Wildpoldsrieder stießen miteinander an und klopften sich stolz auf die Schultern. Der Bürgermeister verkündete derweil versöhnlich, man wolle das Preisgeld von 870 Euro zusammen mit den Schönauern in einem Biergarten "sinnvoll ausgeben".