Historiker Tony Judt verstorben Vom glühenden Zionisten zum Israel-Skeptiker

Der britische Historiker Tony Judt ist tot. Der Geschichtswissenschaftler litt an einer Erkrankung des Nervensystems, die ihn fast vollständig gelähmt hatte.

Der britische Historiker Tony Judt ist nach Angaben der "New York Times" im Alter von 62 Jahren in Manhattan gestorben. Judt galt als kritischer Forscher der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Zeitung berief sich am Sonntag auf Angaben der New York University, wo Judt bis zuletzt gelehrt hatte. Der Historiker litt an ALS, einer Erkrankung des Nervensystems, auch Lou- Gehrig-Syndrom genannt. Hochgelobt wurde sein Werk "Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" (2005).

Mit seiner kritischen Haltung zu Israel eckte der in London geborene Judt, der selbst dem jüdischen Glauben angehörte, immer wieder an. Als junger Mann hatte er Mitte der 60er Jahre mehrere Sommer in einem Kibbuz in Israel gearbeitet und war ein glühender Verfechter des Zionismus gewesen. Während des Sechstagekrieges 1967 meldete er sich freiwillig als Fahrer und Übersetzer zur israelischen Armee. Danach änderte er seine Haltung gegenüber der israelischen Palästinenser-Politik radikal. Das brachte er immer wieder in Aufsätzen zum Ausdruck.

Er studierte in Cambridge und Paris, wo er seine Dissertation über die französischen Sozialisten schrieb. Seit 1987 lehrte er an der New York University. 1995 gründete er mit dem Vermächtnis von Paulette Goddard, der Witwe des deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque, das Remarque-Institute. Unter seiner Leitung wurde es ein wichtiges Zentrum für Forschungen zur europäischen Zeitgeschichte. Seinen Skeptizismus gegenüber der Europäischen Union brachte er 1996 in dem schmalen Band "A Grand Illusion?: An Essay on Europe" zu Papier. Für sein Wirken wurde er unter anderem mit dem Erich-Maria- Remarque Friedenspreis und dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet.

Judt bekam die Diagnose für ALS im September 2008. Innerhalb weniger Monate war er gelähmt und konnte nur noch mit einer mechanischen Hilfe atmen. Trotzdem schrieb er weiter Aufsätze und hielt auch Vorträge. "ALS ist ein fortschreitender Freiheitsentzug ohne Bewährung", beschrieb er seine Krankheit in einem Essay in dem "New York Review of Books".

DPA
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