Immer, wenn ich Lust habe zu verreisen, denke ich, dass irgendetwas mit meinem Leben falsch ist. Weil ich das Gefühl habe, dass verreisende Menschen insgeheim vor irgendetwas weglaufen wollen. Weil ich das Gefühl habe, Fernweh bedeutet bei mir, dass ich insgeheim vor irgendetwas weglaufen will. Es handelt sich im Prinzip um das gleiche Gefühl, das ich bekomme, wenn ich einen neuen Haarschnitt will.
Immer, wenn ich Lust auf einen neuen Haarschnitt habe, ist das für mich die Alarmglocke, die sagt, ich muss irgendetwas in meinem Alltag regeln. Denn egal, wie meine Haare aussehen, das ändert schließlich nicht, wie es in mir aussieht. Und egal, wo ich hinreise, ich werde wieder zurückkommen und alles wird so sein wie vorher, vor allem ich. Das führt dazu, dass ich signifikant viel öfter verreisen will als ich es tue und auch dazu, dass ich meine Frisur niemals ändere.
Wie sich Probleme lösen lassen
Ist es normal, dass ich so denke? Klar, was heißt schon normal. Ich frage mich nur, erstens ob wohl auch andere Menschen so denken. Bestimmt ja, so exklusiv kann ein Gedanke gar nicht sein. Und zweitens frag ich mich, ob wir daran festhalten sollten? Vielleicht nämlich nicht. Schließlich will ungefähr jeder ungefähr andauernd verreisen und neue Haarschnitte haben, spätestens zum Herbst oder Winter. Und nahezu jeder hat nahezu immer irgendwas in seinem Leben zu klären. Das alles korreliert vermutlich viel weniger miteinander als ich immer denke. Und vermutlich bedeuten weder Fernweh noch Styling, dass irgendwas nicht stimmt.
Julia Engelmann: Jede Woche, Baby!
Wurde 1992 geboren, wohnt in Bremen und studiert heute Psychologie. Seit einigen Jahren nimmt sie regelmäßig an Poetry Slams teil. Ein Video ihres Vortrags "One Day" beim Bielefelder Hörsaal-Slam wurde 2014 zum Hit im Netz und bisher millionenfach geklickt, geliked und geteilt. Anfang 2014 ging sie mit Tim Bendzko auf Tour. Neben dem Slammen gilt ihre Leidenschaft der Musik und der Schauspielerei - mehr als zwei Jahre spielte sie in der Soap "Alles was zählt" mit. Ihr Buch "Eines Tages, Baby" ist 2014 im Goldmann Verlag erschienen und schaffte es Anfang 2015 auf die "Spiegel"-Bestseller-Liste. (Foto: Marta Urbanelis)
Auch wenn sich das Leben sicher durch die verrücktesten, kleinsten Erlebnisse ändern kann, glaube ich nicht, dass eine Reise zwangsläufig dieses Erlebnis sein muss, oder dass man von ihr zurückkehrt und wie durch Zauberhand frei von allen Problemen und Schwierigkeiten ist, die man vorher hatte.
Aber zu Hause bleiben ist auch keine Lösung. Denn nur vom Zuhausebleiben alleine lösen sich ja auch nicht plötzlich Probleme. Probleme lösen sich meist, in dem man ihnen in die Augen schaut und sich mit ihrer Lösung so lange beschäftigt, bis man sie findet. Manchmal lösen sie sich auch von alleine, oder in dem man monatelang nicht auf eine SMS antwortet. Manchmal sind Probleme sogar nur Einstellungssache, wie die eigene Frisur eben. Aber das hat mit der eigenen Gedankenwelt und nicht unbedingt etwas mit der Umgebung oder Äußerlichkeiten zu tun.
Was Reisen alles können
Jetzt, wo ich zugegebenermaßen skizzenhaft ausgeführt habe, wie Probleme gelöst werden können (weiterer Rat sollte eingeholt werden!), möchte ich mich noch kurz dem Urlaubsteil dieses Textes widmen:
Vielleicht kann der Wunsch, weit weg zu wollen, etwas über den Zufriedenheitsgrad mit der eigenen Situation aussagen, vielleicht aber auch nicht. Denn abgesehen von (un)möglichen Wundern kann so eine Reise doch so einiges mehr bieten, als ich bisher hätte zugeben wollen. Sie kann einen Einfluss auf die eigene Person, die eigene Weltsicht und die eigene Vorstellung vom Leben und Frisuren haben. Sie kann den eigenen Horizont erweitern. Sie kann einen glücklich machen. Sie kann machen, dass man sich fragt: "Warum hab ich das nicht früher bemerkt?" Und: "Wann geht’s wieder los?" Und mit man, meine ich mich.
Mein Soundtrack zum Text: Flume "Holdin On".