Mein Leben ist schon zu normalen Zeiten schockierend nah an dem, was uns seit Wochen als Ausnahmesituation auferlegt wird. Ich bin zu 90 Prozent fern der Welt allein zu Hause und im Garten, gehe zwischendurch mit dem Hund in den Wald oder ans Meer, kaufe einmal die Woche im Supermarkt des nächsten Örtchens ein und gelegentlich im Baumarkt und unterhalte mich mitmeinen Nachbarn quer über die Straße hinweg, wie es sich gehört für anständige Norddeutsche. Das nächste Kino ist 30 Kilometer entfernt, ob es geöffnet hat oder nicht, würde ich nicht mal merken.
Das gute alte Telefon
Die Ausnahmesituation besteht für mich darin, dass ich so viel telefoniere wie seit Jahrzehnten nicht, so lange und mit so vielen Leuten quer durch alle Stratosphären meines Lebens wie schon ewig nicht mehr. Wie noch nie, um genau zu sein. Studienfreundinnen melden sich, alte Kumpel, längst verzogen, entfernte Bekannte, Ex-Kollegen, ein britischer Kurzzeitlover von vor 40 Jahren. Man fällt sich wechselseitig wieder ein in diesen Zeiten, in denen immer nur von "diesen Zeiten" die Rede ist. "Was macht eigentlich ...?" scheint die Frage der Stunde zu sein, wenn einem sonst die Antworten fehlen.
Analog ist das Gebot der Stunde
Das Interessante ist das Medium: Telefon. Keine Mail, kein Messenger, keine Whatsapp mit Herzchenaugen-Emojis und erstaunlicherweise auch kein Skype oder andere Formen der Videotelefonie. Nein, Telefon, beruhigendes altes Telefon. Als ob die Sehnsucht nach Normalität unbewusst auch zum Instrument eines prädigitalisierten, präglobalisierten Zeitalters greifen lässt. Hie und da habe ich sogar Anrufe bekommen von mir unbekannten, nicht abgespeicherten Nummern: Festnetz, wie sich herausstellte. Festnetz!
Und alle haben was zu erzählen, bei allen tut sich was. Ich höre von überraschenden und nicht so überraschenden Trennungen, von Überlegungen zum Karrierewechsel, von geplanten Umzügen, vom Hadern mit den eigenen Lebensentscheidungen, vom schamhaften Bedauern, nicht das kleinste bisschen systemrelevant zu sein, sondern all die Jahre die ganze Energie auf etwas verwendet zu haben, was komplett verzichtbar ist für den Fortbestand der Welt. Ich höre aber auch von Erleichterung ("wenigstens haben wir uns"), Dankbarkeit, Demut. Über allem liegt eine Ratlosigkeit, die sich die meisten noch nie im Leben zugestanden haben. Einige sind zum ersten Mal in ihrem Leben in Kurzarbeit und haben plötzlich überfordernd viel unverplante Zeit, andere arbeiten im Homeoffice, fern der gewohnten Sozialkontrolle. Sie reparieren endlich das Licht im Keller, legen Kartoffelbeete an, spielen Computerspiele, bringen ihren Katzen Tricks bei, schlagen Bücher auf und legen sie wieder weg, fangen das Joggen an oder hören damit auf, gucken Sondersendungen, wenn auch weniger manisch als noch vor Wochen.
In der neuen Situation einrichten
Man richtet sich ein in der Anomalie. Keiner, mit dem ich telefoniert habe, hat bis jetzt ein Brot gebacken, auch wenn das doch angeblich gerade alle tun. Keiner hat begonnen, eine neue Sprache zu lernen. Aber alle denken über ihr Leben nach. Über das Wesentliche, was immer das auch für jeden Einzelnen bedeutet.
Wie geht’s dir, was machst du? Früher wären Frage und Antwort darauf nur eine Höflichkeitsfloskel gewesen, schnell absolviert. Jetzt reicht es für einstündige Telefonate, für echtes Interesse. Das ist doch schon mal was, das ist sogar sehr viel. In ein, zwei Jahren möchte ich mit allen wieder telefonieren. Was macht eigentlich ...?, werde ich mich dann hoffentlich immer noch fragen. Und freue mich jetzt schon auf die Antworten.