Es heißt immer, Europa und die USA müssen Saudi-Arabien Paroli bieten. Doch wir haben uns mit dem Unrechtsregime zu unserem Vorteil arrangiert. Die wahre Hoffnung liegt nun auf jenen Ländern, die am meisten unter dessen Machenschaften leiden.
Seine Schreie sollen mehrere Mauern durchdrungen haben. Während vor dem Haus seine Verlobte wartete, wurde der Journalist Jamal Khashoggi, einer der schärfsten Kritiker des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, mutmaßlich von Mitarbeitern des königlichen Geheimdienstes ermordet. Khashoggis Verbrechen: die Forderung nach freier Meinungsäußerung für die arabische Welt, nach Menschenrechten und demokratischen Werten. Das Urteil: Tod durch Unbekannt.
Jamal Khashoggi ist das jüngste Opfer eines menschenverachtenden Regimes, wenn auch längst nicht das einzige. Was seinen Fall so prominent macht: Kashoggi wurde nicht in Riad, sondern in Istanbul umgebracht. Er schrieb zuletzt für eine angesehene Zeitung, die "Washington Post", die nun hartnäckig Konsequenzen fordert – und mit ihr zahllose Kolleginnen und Kollegen rund um die Welt. Wäre Jamal Khashoggi Menschenrechtsaktivist oder ein "einfacher" Blogger, sein Verschwinden würde möglicherweise weniger Aufregung verursachen – eine von zwei bitteren Erkenntnissen, die im Zuge der Ermittlungen rund um den Tod des Journalisten zu gewinnen sind.
Der Verrat des Westens an der islamischen Welt
Die zweite Erkenntnis ist, dass der Fall Khashoggi wahrscheinlich keine Folgen haben wird. Zwar sagten zahlreiche CEOs ihre Teilnahme an einer arabischen Investmentkonferenz ab, zwar sah sich die saudische Führung unter dem internationalen Mediendruck gezwungen, die Tötung Khashoggis einzuräumen. Doch das Schmierentheater, das allein der amerikanische Präsident zur offiziellen Erklärung, Khashoggis Tod sei ein bedauerlicher Zufall gewesen, aufführt, lässt befürchten, dass es sein wird wie immer: Fürs Protokoll wird Beschwerde eingelegt. Dann werden weiter Geschäfte gemacht.
Es heißt immer, der Westen müsse endlich gegen Saudi-Arabien aufstehen. Doch dieser Teil der Welt scheint für den Kampf verloren. Wir haben uns arrangiert mit den Investoren, den Waffenkäufern, den Immobiliensammlern. Saudi-Arabien ist der zweitgrößte Kunde deutscher Rüstungskonzerne. Die USA haben zuletzt einen 110 Milliarden Dollar schweren Waffendeal festgemacht, den Donald Trump nicht gefährden will. Wir haben uns kaufen lassen.
Mit diesem Deal haben wir ein Haus gebaut, in dem wir es uns gut eingerichtet haben. Nur ab und zu schauen wir verstört auf. Dann nämlich, wenn wir wieder einmal daran erinnert werden, worauf dieses Haus steht – auf den Rücken der Unterdrückten, der Gefolterten, Eingesperrten und Vertriebenen, wenn ein Zittern durch die Wände geht, weil einer dieser Rücken bricht, diesmal der von Jamal Khashoggi.
Und was macht die Zivilgesellschaft? Verschwendet ihre Kraft lieber darauf, den einzigen einigermaßen demokratisch funktionierenden Staat im Nahen Osten, Israel, mit Boykott-Bewegungen anzupatzen, statt eine viel dringender nötige Boykottbewegung gegen Saudi-Arabien auf die Beine zu bringen. Wir haben uns an den Anblick verhüllter Frauen gewöhnt, ebenso an die Meldungen, was mit ihnen geschieht, wenn sie es wagen, ohne Begleitung eines männlichen Verwandten in ein Kaffeehaus zu gehen. Wir verfallen in wohliges Schaudern beim Ansehen von Serien wie "The Handmaid’s Tale" und verdrängen, dass der fiktive Staat Gilead grausame Realität ist, mit seinem Zentrum in Riad. Wir lassen uns einlullen von Bildern schicker Frauen hinterm Lenkrad, während die Aktivistinnen, die das Recht dafür erkämpften, dass Frauen im Jahr 2018 endlich Auto fahren dürfen, reihenweise ins Gefängnis geworfen werden. Wir zeigen mit den Fingern auf den Zustand der Menschenrechte im Allgemeinen und der Frauenrechte im Speziellen und verdrängen in unserer seligen Selbstgerechtigkeit, dass wir diesen Zuständen mit unseren Wirtschaftsabkommen unsere schweigende Zustimmung erteilen.
Ein ägyptischer Aktivist sagte einmal zu mir: "Die Menschen in der arabischen Welt dürsten nach Freiheit, aber der Westen behält das Wasser für sich." Auch nach dem Tod von Jamal Khashoggi ist nicht mehr zu erwarten als Lippenbekenntnisse und ein Showprogramm aus gespielter Empörung und heimlichen Absprachen. Nein, bei einer dringend nötigen Zerschlagung des Systems Al-Saud ist mit dem Westen derzeit nicht zu rechnen. Es geht uns allen zu gut mit dieser unheiligen Allianz.
Die meisten Opfer Saudi-Arabiens leben in der islamischen Welt
Die Hoffnungen auf eine Bewegung, die den Al-Sauds Beine macht, müssen auf der islamischen Welt selbst liegen. Auf jenen Menschen, die bisher am meisten unter den saudischen Exzessen gelitten haben. Die Welle des von Saudi-Arabien aus mutmaßlich finanzierten Extremismus hat unvorstellbares Leid verursacht, die Zahl der durch zahllose Anschläge und alltäglichen Terror Getöteten von Kabul bis Mogadischu übertrifft jene der im Westen durch Terror Umgekommenen um ein Vielfaches. Ganze Länder mussten schon als Spielplätze herhalten für Ränke und Wahnideen reicher Saudis wie Osama Bin Laden, die ihre einfallslose, öde Einheitskultur wie ein schwarzes Tuch über die einst so vielfältige islamische Welt auszubreiten versuchen, und die in ihrer Heimat die Mittel für ihre Terrorbande sammelten. Saudische Kräfte haben mit ihrer irrwitzigen, der wahabitischen Haussekte des Königshauses entspringenden Auffassung von Geschlechterordnung und mit der Finanzierung fundamentalistischer Gruppen die islamische Welt bleibend vergiftet. Und lieferten nebenbei den Beweis für meine These: Die Unterwerfung der Frau unter gesetzlich verordnete Verhaltensregeln ist die Keimzelle der perfekten Diktatur.
Der lächelnde Heuchler
Dem aktuellen Machthaber Saudi-Arabiens, Kronprinz Mohammed bin Salman, der von Säkularisierung redet und zugleich nahezu jeden einsperren lässt, der Zweifel an seinen Worten äußert, wird von westlichen Regierungen der rote Teppich ausgerollt. Er erinnert mich an einen Mafiaboss, der mittels Ankündigung der Säkularisierung sein Vermögen aus einem menschenverachtenden, bigotten, verlogenen System weißzuwaschen beginnt. Er regiert über ein Land, das zugleich Brandstifter und Feuerwehr spielt, wie die "New York Times" es einmal nannte, und von wo aus der stets schwelende Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten immer wieder aufs Neue angefacht wird – mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung. Und während wir uns über den Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten echauffieren, legen im Jemen Geschwader unter saudischer Führung ganze Landstriche in Schutt und Asche – mit militärischem Gerät, das sie in Deutschland bestellt haben.
Die islamische Welt darf nicht länger darauf warten, dass der Westen ihnen das Joch Al-Saud abnimmt. Uns geht es zu gut damit. Wir sind fett, faul und zaghaft geworden, protestieren nur dort, wo wir keine Folgen befürchten müssen. Nein, meine Hoffnung auf echte Veränderung in Saudi-Arabien liegt ab jetzt auf der islamischen Welt, in der mutige Menschen seit Langem darauf hinweisen, dass der mit Geldbündeln wedelnde große Bruder, als der sich Saudi-Arabien seit Jahrzehnten inszeniert, in Wirklichkeit ihr schlimmster Feind ist. Vielleicht stehen die Tapfersten unter ihnen wieder auf, vielleicht mobilisieren sie die Massen wie bereits zuvor. Und wie zuvor werden sie sich schwerem Kriegsgerät und Allianzen gegenübersehen, mit denen ihre Unterdrücker uns für unsere Untätigkeit bezahlen. Schande über uns.
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