Ach, was für herrliche Bilder: Gianni Infantino genießt das Leben. Mitten im wildesten WM-Stress gönnt sich der welthöchste Vertreter des Fußballs eine Auszeit. Und er teilt sie mit den großen Legenden des Sports, mit 5000 Fans, mit Volunteers und mit Gastarbeitern! Von denen waren auf der Reise des Emirats zu dieser WM Tausende gestorben. So legen es Medienberichte und Berichte von Menschenrechtsorganisationen nahe. Womöglich auch an jenem Ort, dem Al-Thumama-Stadion, an dem die FIFA am Montag zum gemeinsamen Kick von Altstars und Arbeitern geladen hatte. Infantino griff zur Pfeife. Der Vermittler zwischen den Welten.
Der Schweizer ist seit Jahren die sonderbarste Figur im Fußball und schreibt in dieser Geschichte unfassbarer Unterwürfigkeit (gegen Autokraten) und absurder Visionen (für den Fußball) immer neue Kapitel. Ignorant gegen Kritik. Immun gegen einen intakten moralischen Kompass. Nichts scheint diesem 52-Jährigen heilig, erst recht nicht Kuscheleinheiten mit den autoritärsten Regimen unseres Planeten. In den Tagen von Doha lächelte er an der Seite des Emirs Tamim bin Hamad Al Thani und des saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Der steht im Verdacht, den Mord an dem kritischen Journalisten Jamal Khashoggi in Auftrag gegeben zu haben.
Infantino erfreut sich an der Unparteilichkeit
Katar steht insbesondere in Europa wegen des Umgangs mit ausländischen Arbeitern in der Kritik. Offiziellen Angaben zufolge sind auf den Baustellen der acht WM-Stadien seit der Vergabe im Jahr 2010 drei Menschen gestorben, im Laufe der WM wurde die Zahl von offizieller Stelle erst auf 400 bis 500 nach oben korrigiert und dann wieder eingefangen. Die Gesamtzahl liegt so oder so massiv höher. Berichte über menschenunwürdige Lebensbedingungen hatten die Öffentlichkeit immer wieder schockiert. Katar weist die Kritik zurück und führt weitreichende Reformen an, auch bei den Arbeitnehmerrechten.
Diese WM, sie hat so viele absurde Bilder produziert – und eines der absurdesten war dieses Spiel der Legenden und der Gastarbeiter (wer sie waren und wie sie gecastet wurden, ist unklar) in dem Infantino bestens gelaunt in rot-schwarzer Schiedsrichter-Kluft auflief und in zehn Minuten absoluter und knallharter Unparteilichkeit zwei Gelbe Karten verteilte. Infantino, ein Freund der Regeln, ein Mann der Tat. Doch sind seine Taten umstritten, über sein Gebaren bei dieser WM ist erschöpfend berichtet worden: Das Einknicken im Bierstreit mit den Mächtigen des Emirats, die völlig wirre Rede vor der offiziellen Eröffnung, als er sich gleichermaßen zum Erlöser und Märtyrer des Weltfußballs erhob, und das Verbot der "One Love"-Binde, das sind nur die wildesten Auswüchse des FIFA-Chefs bei der Wüsten-WM in jenem Staat, in dem er wohnt.
Und in dem er mittlerweile auf die mächtigen Reflexe des Fußballs vertrauen kann. Wenn auch verspätet, hat sich der Fokus der Öffentlichkeit auf die sportlichen Dinge gelenkt. Der Tribünen-Zusammenbruch und Tod des amerikanischen Journalisten Grant Wahl machte da eine letzte Ausnahme. Weltweit waren die Leute in den vergangenen Tagen fasziniert von dem giftigen Duell zwischen Argentinien und den Niederlanden. Weltweit feiern Menschen das Märchen der stolzen Marokkaner, die als erste Mannschaft aus Afrika ein WM-Halbfinale erreicht hatten. Infantino ist stets vor Ort und genießt die Geschichten des Fußballs.
Rund 200 Nationen soll Infantino hinter sich haben
Die WM läuft für den Schweizer erstaunlich rund, abgesehen von vereinzelten Störfeuern von europäischen Großverbänden. Der Großteil der Welt steht hinter dem Fußball-König. Im kommenden Jahr wird er in seine dritte Amtszeit gehen, bei der FIFA-Wahl gibt es keinen Gegenkandidaten. Rund 200 Nationen soll er weiter hinter sich haben, dass ihm mit dem DFB der größte Einzelsportverband der Erde in Zukunft die Gefolgschaft verwehrt, ist für ihn bestenfalls eine unangenehme Randnotiz. Wahrscheinlich nicht mal das.
US-Reporter Wahl starb laut seiner Frau bei WM-Spiel an Aneurysma

Der während seiner WM-Berichterstattung in Katar plötzlich zusammengebrochene bekannte US-Fußballreporter Grant Wahl ist seiner Witwe zufolge an einem Aneurysma gestorben. Eine in New York vorgenommene Autopsie habe ergeben, dass der 49-jährige Sportjournalist am Riss eines "langsam wachsenden, unentdeckten aufsteigenden Aneurysmas der Aorta" gestorben sei, teilte Wahls Witwe Celine Gounder am Mittwoch im Onlinemedium Substack mit.
Wahl war vergangenen Freitag während des WM-Viertelfinalspiels zwischen Argentinien und den Niederlanden auf der Pressetribüne im Stadion Lusail in Doha zusammengebrochen. Sein Leichnam war am Montag nach New York überführt worden, wo auch die Autopsie erfolgte. "Keine Wiederbelebungsmaßnahmen hätten ihn retten können", erklärte Gounder, eine renommierte Epidemiologin. Sein Tod habe weder im Zusammenhang mit dem Coronavirus noch mit dem Impfstatus gestanden. Sie wies damit in Onlinemedien kursierende Spekulationen zur Todesursache zurück.
Bei einem Aorta-Aneurysma, Ausbuchtungen der Blutgefäße der Hauptschlagader, droht im schlimmsten Fall deren Riss. "Der Druck in der Brust, den er kurz vor seinem Tod verspürte, könnte das erste Symptome gewesen sein", erklärte Gounder nun.
Infantino, so absurd das klingt, scheint mächtiger denn je. Und der Fußball ihm und seinem Gebaren ausgeliefert. Dass mit Saudi-Arabien ein Land mit noch fragwürdigerer Menschenrechtslage als Katar die WM 2030 ausrichten möchte, wird Teile der westlichen Welt in Aufregung, in Empörung, versetzen, den Schweizer aber weiter tief in sich ruhen lassen – schließlich täte sich da bei einem Zuschlag eine neue, gigantische Geldquelle auf. Schon jetzt sprudelt das Geld in Massen. Und Infantino gibt es aus, ein stabiles Fundament seiner Macht. Und dass sich in Katar erstmals Nationalmannschaften aus allen sechs Erdteilen für die K.-o.-Runde qualifiziert haben, spricht für die Öffnung des Fußballs, die Infantino zu seiner Mission gemacht hat.
Und wie er sie genießt! Infantino klatscht mit den Legenden um Alessandro del Pierro und Cafu ab, er lächelt, er pfeift – alles wirkt so befreit, befreit von den Schatten, die auf dieser WM lasten. Aber dieses Lächeln, diese gute Laune, sind eben auch ein Hohn auf den Tod der zahlreichen Gastarbeiter. Dieses Turnier, es produziert einfach immer weiter seltsame Bilder. "Lasst uns hier auf einen großen Fußballabend hoffen, so wie wir hier bisher eine großartige WM gesehen haben", sagte Infantino vor dem Anpfiff des 60-minütigen Spiels: "Fußball vereinigt die Welt". Zumindest jenen Teil, den die FIFA sehen möchte.
Dieser Artikel erschien zuerst bei ntv.de