Wolfgang M. hat alle enttäuscht und viele zu Opfern gemacht. Seine Ex-Frau, seine Ex-Freundin, seine Kumpels hat er in einem Chaos voller Schulden zurückgelassen. Angestellte von Banken und Geschäften hat er bei seinen Überfällen zu Tode erschreckt, Polizisten verletzt. Und am Ende hat Wolfgang M. verzweifelt einen Ausweg gesucht: Ein Selbstmordversuch ging schief, der 50-Jährige ist für den Rest seines Lebens durch Brandnarben entstellt. Von diesem Montag an muss er sich vor dem Münchner Landgericht verantworten, angeklagt des versuchten Mordes und der räuberischer Erpressung.
Wolfgang M. hat das Leben so vieler Leute aus dem Gleichgewicht gebracht, da ist es gut, sich die Geschichte dieses Mannes aus dem Munde eines ruhigen, rationalen Menschen anzuhören. Dieser Mensch heißt Peter Neun (Name von der Redaktion geändert), ist Kundenbetreuer in der IT-Branche und neigt nicht zu großen Gefühlsausbrüchen. An seinem Esstisch erzählt er über seine wechselvollen Jahre als Kumpel von Wolfgang M.
Die Männer lernen sich Anfang der neunziger Jahre kennen. Wolfgang M. arbeitete damals in der IT-Abteilung eines Handelsunternehmens in München, Peter Neun bei einem Zulieferer. Aus Geschäftspartnern werden Freunde. Neun führt den "sehr kommunikativen und offenen" Wolfgang M. und dessen damalige Partnerin Ulrike Haas (Name geändert) in seine Clique ein. Die Männer spielen zusammen Squash, fahren in den Club-Urlaub nach Tunesien oder die Türkei.
Frust durch Niederlagen
Doch schon damals bemerkt Peter Neun einige negative Eigenschaften an seinem neuen Freund: So habe Wolfgang M. stets seinen Frust an seiner Freundin und späteren Ehefrau Ulrike ausgelassen. "Er konnte überhaupt nicht verlieren. Er war ein sehr guter Squash-Spieler, aber wenn es mal bei ihm nicht gut gelaufen ist, war sie immer schuld an seinen Niederlagen." Und Neun fiel noch etwas an Wolfgang M. auf: dessen Hang zum schönen Leben, zu edlen Weinen, zu teuren Elektrogeräten. "Für all diese Dinge hat er aber nicht genug verdient. Trotzdem hat er auf kaum etwas verzichtet. Er lebte über seine Verhältnisse. Ich glaube auch, um der Gruppe zu imponieren."
Offenbar zeigt sich schon damals die kriminelle Energie von M. Denn seine spätere Freundin Petra Weimer (Name ebenfalls geändert) behauptet im Gespräch mit stern.de, er habe seinen Arbeitgeber um einige zehntausend Mark betrogen und sei deshalb fristlos entlassen worden. Das Unternehmen will sich dazu nicht äußern, Wolfgang M. schreibt in einem Brief an stern.de, er möchte dazu "keine Angaben machen".
Wolfgang M.'s Umfeld zumindest bekommt von all dem nichts mit. Freund Peter Neun erfährt nur von M.'s Jobwechsel zu einer Telekommunikationsfirma. Am Verhalten seines Kumpels, insbesondere der Spendierlaune und Jähzornigkeit, habe sich in den Folgejahren nichts geändert, sagt Neun.
2002 dann die Trennung von Frau Ulrike. Wolfgang M. schreibt, sie sei immer verschlossener geworden und habe ihn dann wegen eines Arbeitskollegen verlassen. "Ich fand mich damit ab." Sein Kumpel Neun erinnert sich anders daran. "Wolfgang hat mit uns nie über dieses Thema gesprochen. Ich glaube aber schon, dass ihn das sehr belastet hat." Es bleibt nicht der einzige persönliche Tiefschlag für Wolfgang M. Im Winter 2005 habe er einen Schlaganfall erlitten, ein Jahr später eine Beinvenenthrombose, im Winter 2007 eine Lungenembolie.
Flucht nach Italien
Mittlerweile ist Wolfgang M. mit Petra Weimer liiert, nach einem halben Jahr sind die beiden im Mai 2006 zusammengezogen. "Es ging sehr schnell. Aber er war ein netter Kerl und ich dachte, er ist der Richtige", sagt Petra Weimer. Von den gesundheitlichen Problemen ihres neuen Partners bekommt sie nicht viel mit. "Er hat mir nur gesagt, dass er starke Kopfschmerzen habe und eine verstopfte Ader im Kopf. Es schien aber nicht so schlimm zu sein." Über Schwierigkeiten im Job oder gar Schulden erzählt Wolfgang M. nichts.
Erst im Nachhinein erfährt Petra Weimer, dass ihr einstiger Partner 2006 von dem Telefonunternehmen wegen unentschuldigter Fehltage abgemahnt und sein Gehalt reduziert wurde. "Ich habe damals nur gemerkt, dass er immer garstiger wurde und ständig auf mir rumgehackt hat. Heute ist mir klar, dass sein Geld nicht gereicht hat. Aber er konnte ja nicht verlieren, deshalb hat er es mir wahrscheinlich nicht erzählt." Wolfgang M. selber klagt über den damaligen Arbeitgeber: "Auf den Gesundheitszustand wurde keine Rücksicht genommen. Statt mich behutsam in den Job zurückzuführen, ging man mit mir repressiv und mit viel Druck um."
Im zweiten Halbjahr 2007 überstürzen sich dann die Ereignisse. Erst verschwindet Wolfgang M. vier Wochen nach Italien, ohne seine Freundin vorher zu fragen. "Er sagte mir nur: Ich muss mal weg." Petra W. hat genug, zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus und vereinbart mit Wolfgang M., dass er die Miete künftig alleine zahlt. Petra W. versäumt es, offiziell zu kündigen. Ein teures Versäumnis, wie sie aber erst später feststellen wird.
Kurz vor Weihnachten 2007 taucht Wolfgang M. dann zum letzten Mal zum Putenessen bei einem Freund auf. "Er schien ganz normal, aber jemand hat erzählt, dass er sich beim Gastgeber komisch verabschiedet hat", erinnert sich Peter Neun. M. entschließt sich zu einem radikalen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben: Am 3. Januar 2008 fährt er mit seinem VW-Bus und dem Motorroller nach Italien, lässt seine drei Katzen, seine Wohnung, seine Unterlagen zurück, für seine Freunde findet er kein einziges Wort des Abschieds. "Wir haben vermutet, dass er nach Italien abgehauen ist, denn er war richtig italophil", sagt Neun. "Und in den kommenden Monaten haben wir immer mal wieder über Dritte gehört, dass er dort und auch in München gesehen wurde."
Wolfgang M. begründet seinen Abschied vor allem mit seinen gesundheitlichen Problemen im kalten München. "Ein weiterer Winter in Deutschland würde aller Wahrscheinlichkeit nach mein letzter Winter sein. Eine Scheidung und die drohende Zwangsräumung trugen ihr übriges dazu bei, meinen Entschluss in die Tat umzusetzen."
Inzwischen muss sich Petra Weimer mit den Hinterlassenschaften ihres Ex-Partners herumärgern. "Er hat in der Wohnung ein absolutes Chaos hinterlassen, und ich musste die Räumung bezahlen, da wir ja nicht richtig gekündigt haben." Aber das ist nicht M.s schlimmstes "Abschiedsgeschenk" . Denn offensichtlich hat er monatelang keine Miete mehr bezahlt. Bis heute muss Petra Weimer die Schulden abstottern. "Dieser Typ macht sich einfach vom Acker und ich muss alles bezahlen. Ich freue mich, ihm bald vor Gericht mal in die Augen schauen zu können."
Wie M. zum Räuber wird
Vor Gericht landet Wolfgang M. aber nicht wegen seines Verhaltens im alten, sondern wegen seiner Taten im neuen Leben. Denn nachdem er München den Rücken zugekehrt hat, lebt er auf Campingplätzen und fährt mit seinem VW-Bus durch Italien. Sein Plan: Leben, bis das Geld zu Ende ist - und dann Selbstmord. Doch ihm sei in Italien ein kleiner Hund zugelaufen, er habe Verantwortung für das Tier gehabt, schreibt Wolfgang M. "Ich konnte mich nicht mehr umbringen."
Weil aber das Geld knapp wird, und er nicht als Hartz IV-Empfänger im kalten Deutschland leben will, schlägt M. einen neuen Karrierenweg ein: Er wird zum Räuber und überfällt bis 2010 insgesamt 17 Tankstellen und Geschäfte in Bayern.
Jeweils mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, erbeutet er dabei zwischen 300 und 6000 Euro. Nach den Taten trickst er stets die Polizei aus, fährt mit seinem Motorrad zum bereitstehenden VW-Bus und flüchtet unerkannt über die Grenze zurück nach Italien. Zwei Jahre lang geht aus der Sicht von Wolfgang M. alles gut. "Es gab keinerlei Widerstand, wohl auch deshalb, weil ich immer versuchte, beruhigend auf die Kassierer einzuwirken und sie höflich und mit Respekt behandelte."
Der erste Banküberfall markiert jedoch das Ende der Raubserie: Nach der Tat im schwäbischen Burgau am 16. August 2010 flüchtet Wolfgang M. mit den erbeuteten 21.000 Euro wie gewohnt mit seinem Motorroller, packt ihn in seinen VW Bus und will zurück nach Italien. Doch diesmal fällt er einer Polizeistreife auf. Zusammen mit weiteren alarmierten Beamten stellt die Streife den Bankräuber auf einer Bundesstraße bei Augsburg.
Dann geschieht das Unfassbare: Eingekreist von Polizisten bleibt Wolfgang M. mit seinem Hund auf dem Schoß sitzen und weigert sich auszusteigen. Laut Anklage öffnet er dann eine Propangasflasche hinter seinem Sitz und hantiert mit mehreren Feuerzeugen. Einem Polizisten, der durch ein geöffnetes Fenster griff, sagt M.: "Was soll das, gehen Sie weg." Die umstehenden Beamten hätten dann erst das Gas bemerkt, meint die Staatsanwaltschaft. Sie hätten noch einige Schritte zurückgehen können, bevor es Wolfgang M. gelungen sei, das Gas zu entzünden.
"Wie ein schwer verbrannter Pilot"
Es ist der Gipfel der Tragödie: Wolfgang M. wird durch die Explosion schwer am Oberkörper verletzt, seine Hände sind nur noch Stummel, sein Gesicht ist entstellt, Ohren und die Nase sind verbrannt. Wolfgang M. liegt sieben Wochen im Koma und muss unzählige Male operiert werden. Die Polizisten erleiden Verletzungen wie Verbrennungen ersten und zweiten Grades, Schleuder- und Knalltraumen. Die Staatsanwaltschaft erkennt zwar an, dass Wolfgang M. in Selbstmordabsicht handelte, wirft ihm aber vor, die Verletzungen und auch den Tod der Beamten zumindest billigend in Kauf genommen zu haben. Genug, um ihn neben den Überfällen auch wegen versuchten Mordes anzuklagen.
In seinem Brief aus dem Gefängnis beteuert Wolfgang M: "Dieser Vorwurf ist für mich nach wie vor dermaßen irreal und abwegig. Ich wollte ausschließlich nur mich umbringen und keinesfalls jemand anderen auch nur verletzten." Zudem hätten die Beamten doch nur Verletzungen erlitten, "die denen eines Sonnenbrandes entsprechen". Das, so schreibt Wolfgang M. weiter, "soll meine Tat nicht schmälern. Wenn ich wegen Körperverletzung angeklagt werden würde, verstünde ich das, denn das war es ja auch." Er stehe zu seinen Taten, entschuldige sich bei den Opfern, "aber ich möchte nicht für etwas bestraft werden, das ich nicht begangen habe. Genau das versucht die Münchner Justiz mit unfairen Mitteln zu erreichen".
In seinem Kampf gegen die "zwielichtigen und undurchsichtigen Machenschaften" der Justiz hat Wolfgang M. einen engagierten Mitstreiter: Pflichtverteidiger Karl Heinz Seidl, selber Autor eines justizkritischen Buches. Der Anwalt fährt nicht nur mehrmals pro Woche ins Gefängnis zu seinem Mandanten und ist damit dessen einzige Besucher. Seidl hat M. auch seinen einzigen verbliebenen Besitz, eine Armbanduhr, die bei der Explosion beschädigt wurde, auf eigene Kosten reparieren lassen. Sein "Herzblut" hänge an diesem Fall, einer der letzten, bei dem er sich so richtig engagieren werde, sagt Seidl. "Ich habe einfach Mitleid mit diesem armen Hund." Wie Oberst Steinhoff, ein bei einem Absturz im Zweiten Weltkrieg schwer verbrannter Pilot, sehe Wolfgang M aus. Er wisse nicht, was diesen Mann am Leben erhalte. "Vielleicht ist es seine Hoffnung auf eine milde Strafe."
"Er wollte nur sich umbringen"
Dass diese Hoffnung vor Gericht zerplatzen wird, davon geht auch Anwalt Seidl aus. "Er wird eine harte Strafe für die Überfälle bekommen, schließlich sind die Opfer teilweise schwer traumatisiert." Aber gegen den Vorwurf des versuchten Mordes - und eine möglicherweise lebenslange Haftstrafe - will Seidl mit allen Mitteln kämpfen. "Die Polizisten sagen doch selber aus, dass er sie gewarnt hat. Zudem bestand außerhalb des Autos keine Lebensgefahr, das zeigen doch die Verletzungen. Er wollte nur sich umbringen. Und er ist durch seine eigenen Verletzungen bestraft genug."
Auch Wolfgang M.s Ex-Freundin Petra Weimer und sein früherer Kumpel Peter Neun halten die Anklage wegen versuchten Mordes für überhart. "Er wollte die Polizisten sicher nicht verletzen", sagt Petra Weimer. "Das ist nun wirklich nicht seine Art. Er wollte einfach nur mal wieder vor dem Konsequenzen seiner Taten fliehen." Sie sagt das, obwohl sie stinksauer auf ihren Ex-Partner ist und ihm eine Haftstrafe für die Überfälle wünscht.
Peter Neun ist unschlüssig. "Ich habe ein sehr ambivalentes Gefühl. Auf der einen Seite hat er eine absolut kriminelle Karriere hinter sich. Auf der anderen Seite habe ich schon Mitleid angesichts des körperlichen Zustands, in dem er sich befindet. Und dann noch dieser übertriebene Mordvorwurf." Aber Verzeihen? Nein, das kann Neun nicht. Er überlegt dennoch länger bei der Frage, ob M. zurück in die Clique dürfte. Eher nein, sagt er dann, die Enttäuschung sei zu groß. Neun: "Meine kranke Frau wollte leben und ist vor einiger Zeit gestorben. Wolfgang wollte sein Leben wegschmeißen. Das kann ich nicht verzeihen."