Fünf Tage nach dem Jahrhundertbeben in Haiti kommt es immer häufiger zu Plünderungen. Vor allem in der zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince nimmt die Gewalt zu. Am Alten Markt im Stadtzentrum ging die Polizei mit Tränengas gegen Hunderte von Plünderern vor. Mit Lastwagen fuhren die Sicherheitskräfte in die Menge und versuchten so, die Menschen auseinanderzutreiben. In vielen Straßen der in Trümmern liegenden Stadt waren Gewehrschüsse zu hören. Vermummte junge Männer zogen mit Macheten durch die Stadtviertel. Die Behörden warnten davor, dass sich die Gewalt weiter ausbreiten könnte. Mindestens zwei Plünderer wurden bereits von Anwohnern zusammengeschlagen und erschossen.
Die Polizei hielt Journalisten davon ab, in die Innenstadt zu gehen. Ein Polizeibeamter sagte einer Reporterin der Deutschen Presse-Agentur: "Sie schießen auf jeden, Journalisten, Polizisten." Bereits zuvor hatte es Berichte über sich ausbreitende Unruhen und sporadische Gewalt gegeben. In den meisten Fällen war der Hintergrund, dass Lebensmittel gestohlen wurden. Auch der für die militärischen Hilfsgüter-Transporte zuständige US-General Ken Keen sagte, dass gewalttätige Auseinandersetzungen die Hilfe für die Erdbebenopfer behindere.
Spendenkonten
Mehr als 50.000 Menschen sind bei dem schweren Erdbeben in Haiti ums Leben gekommen. Unzählige sind obdachlos, verletzt und hilfsbedürftig. Wenn Sie für die Opfer der Naturkatastrophe spenden wollen, finden Sie hier eine Liste mit Hilfsorganisationen, die vor Ort die Bedürftigen unterstützen.
Die haitianische Regierung rief fünf Tage nach dem Erdbeben den Notstand in dem zerstörten Karibikstaat aus. Der Ausnahmezustand gelte bis Ende Januar, teilte der haitianische Minister für Alphabetisierung, Carol Joseph, mit. Zudem gelte für den Zeitraum von vier Wochen eine nationale Staatstrauer, in der die Flaggen auf öffentlichen Gebäuden im ganzen Land auf Halbmast gesetzt würden. Nach Angaben des Ministers wurden bislang 70.000 Leichen in Massengräbern beigesetzt.
Haiti ersuchte inzwischen die USA ausdrücklich, für die Sicherheit in dem Land zu sorgen und langfristig beim Wiederaufbau zu helfen. In einem am Sonntag veröffentlichten Kommuniqué beider Staaten begrüßte der haitianische Präsident René Préval die Anstrengungen der USA als wesentlich für den Wiederaufbau und die Stabilität des Landes. Die Erklärung ist Resultat eines Treffens Prévals mit US-Außenministerin Hillary Clinton am Samstag in Port-au-Prince.
US-Soldaten sollen für Sicherheit sorgen
Um die schlechte Sicherheitslage in den Straßen der Hauptstadt zu verbessern, würden nun 3500 US-Soldaten die UN-Friedenstruppe sowie die örtliche Polizei verstärken, erklärte Preval. "Wir haben 2000 Polizisten in Port-au-Prince, die nur begrenzt einsatzbereit sind. Und aus dem Gefängnis sind während des Erdbebens 3000 Verbrecher geflohen", sagte Preval vor Journalisten. "Das gibt Ihnen eine Vorstellung, wie ernst die Lage ist." Der Zorn der Menschen richtet sich aber auch gegen Preval. Bislang ließ er sich weder bei den Rettungskräften sehen, noch wandte er sich seit dem Beben direkt an das Volk. Deshalb mehren sich die Rufe nach einer Rückkehr von Jean-Bertrand Aristide, der 2004 abgesetzt wurde und derzeit im Exil in Südafrika lebt.
US-General Keen hält es für möglich, dass 200.000 Menschen ums Leben gekommen sind. "Wir werden uns auf das Schlimmste gefasst machen müssen", sagte Keen in einem Interview. Haitis Regierung geht davon aus, dass bei dem Beben der Stärke 7,0 vom Dienstag möglicherweise mehr als 100.000 Menschen starben.
Personensuche des Roten Kreuzes
Zahllose Menschen werden seit dem verheerenden Erdbeben in Haiti vermisst. Das Internationale Rote Kreuz gibt auf einer speziellen Web-Site die Möglichkeit, nach vermissten Verwandten und Freunden zu suchen.
Dort sind bisher bereits mehr als 14.000 Vermisste registriert, die Zahl der Einträge steigt weiter.
Die Suche nach Überlebenden geht weiter. Allerdings sinkt die Chance für die Verschütteten von Stunde zu Stunde dramatisch. Unter den Trümmern eines eingestürzten Hotels entdeckten Helfer mit Suchhunden ein 16 Jahre altes Mädchen und bargen es. Auch auf dem Gelände des zerstörten UN-Hauptquartiers in der haitianischen Hauptstadt wurde am Sonntag ein Mitarbeiter aus den Trümmern gerettet. Mindestens 39 seiner Kolleginnen und Kollegen kamen dort aber um - darunter auch der Chef der UN-Mission, Hedi Annabi.
Nach Angaben der Vereinten Nationen haben mehr als 1700 Rettungskräfte bislang über 70 Menschen lebend aus den Trümmern gerettet. Verschüttete könnten unter optimalen Bedingungen bestenfalls bis Montag überleben, erklärte eine UN-Sprecherin.
Ban bittet Opfer um Geduld
Erschütternde Szenen spielten sich in einem stark zerstörten Altenheim ab. Für die 85 überlebenden Bewohner gibt es weder Lebensmittel noch Wasser oder Arzneimittel. Ein Bewohner ist bereits gestorben, weitere werden unweigerlich folgen, wenn nicht unverzüglich Wasser und Nahrungsmittel in dem Heim nur gut einen Kilometer vom Flughafen entfernt eintreffen, wie Leiter Jean Emmanuel sagt.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bat unterdessen die Opfer des Jahrhundertbebens, die zunehmend verzweifelt auf Hilfe warten, um Geduld. Die Versorgungslage werde sich langsam weiter verbessern, sagte Ban nach seinem Besuch in Port-au-Prince.
So sollen am Montag rund 280 Notfallzentren in Schulen und öffentlichen Gebäuden eröffnet werden. Wie aus Regierungskreisen verlautete, sollen diese in enger Abstimmung mit dem Welternährungsprogramm betrieben werden und der Verteilung von Hilfsgütern sowie als Notunterkünfte dienen.