Halberstadt-Prozess "Wer ist hier das Opfer?"

  • von Lars Radau
Im Prozess um den brutalen Neonazi-Überfall auf Halberstädter Schauspieler haben die Opfer und ihre Anwälte erneut Vorwürfe gegen die Polizei erhoben. Die Beamten hätten am Tatort auch auf deutliche Hinweise nicht reagiert - und so den vorbestraften Tätern die Flucht ermöglicht.

Die Situation vor der Halberstädter Kneipe "Spucknapf" muss bizarr gewesen sein: Um zwei Polizisten steht eine Gruppe geschockter, aufgebrachter und teilweise stark blutender Schauspieler und Musiker. Gerade eben sind sie von bis zu acht mutmaßlich der rechtradikalen Szene angehörigen Männern überfallen, geschlagen und mit Stiefeltritten traktiert worden. Zwei Frauen aus dem Ensemble machen mit erhobener Stimme darauf aufmerksam, dass ein Teil der Täter immer noch in unmittelbarer Tatortnähe ist, zeigen mit ausgestreckten Armen auf sie. Doch die Beamten nehmen ungerührt erst einmal weiter die Personalien der Überfallenen auf.

Haupttäter räumt "Faustschläge" ein

"Da habe ich mich schon gefragt, wer hier eigentlich Opfer und wer Täter ist", sagt Robert S. Der 19-jährige Schüler wirkt nicht so, als ob ihn schnell etwas aus der Ruhe bringen könnte. Aber in diesem Moment, im großen Saal des Magdeburger Landgerichts, in dem das zuständige Amtsgericht Halberstadt den Überfall wegen des großen Publikumsinteresses verhandelt, klingt seine Stimme schlicht verblüfft. Er war während der Schlägerei am Kopf getroffen worden und kurz ohnmächtig zusammengesackt. Als er wieder zu sich kam, sah er, wie einer der Neonazis seinen Kollegen Alexander J. mit Springerstiefeln gegen den Oberkörper und ins Gesicht trat.

Heute ist er sehr sicher, dass es sich dabei um den geständigen Haupttäter Christian W. handelte. Der hatte in einer Erklärung zu Prozessbeginn Faustschläge eingeräumt. Deshalb will sein Anwalt Jens Glaser von S. wissen, warum er sich so sicher sei, dass es sich um Springerstiefel gehandelt habe. "Die erkennt man", sagt der Schüler lapidar. Außerdem habe sich ihm das dumpfe Geräusch, das die mit Stahlkappen verstärkten Schuhspitzen beim Auftreffen auf einen Körper verursachen, tief eingebrannt.

Verfolgung abgebrochen

Er selbst, erzählt Schulze, habe aufgeregt auf die Polizisten eingeredet, als Christian W. sich auf seinem Fahrrad wieder am Ort des Geschehens blicken ließ - und angesichts der mittlerweile zahlreichen Blaulichter sofort kehrt machte. "Im Affekt" sei er gemeinsam mit einem Ensemble-Kollegen hinter W. hergelaufen. Auf der abschüssigen Straße, auf der W. davonradelte, hätten sie aber keine Chance gehabt, den Radfahrer einzuholen. "Also haben wir nach etwa 200 Metern die Verfolgung abgebrochen und sind umgekehrt". Erst da, betont S., sei ihnen ein Polizeiwagen entgegengekommen.

Spricht man mit den Ensemble-Mitgliedern des Nordharzer Städtebundtheaters, ist sich der Großteil ziemlich sicher, dass sich der Polizeiwagen überhaupt erst in Marsch setzte, weil S. und sein Kollege dem Flüchtigen nachliefen. Eine Bestätigung für diese These gibt es bislang nicht - die beteiligten Beamten werden vermutlich erst Ende November aussagen. Dass aber bei dem Einsatz reichlich Pannen passierten, haben die Verantwortlichen inzwischen eingeräumt: Die Beamten seien überfordert gewesen, heißt es in einem internen Bericht. Ein Dienstgruppenleiter wurde beurlaubt, aktuell beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des sachsen-anhaltischen Landtags auch mit den Vorgängen von Halberstadt. Ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Polizisten, das die Halberstädter Staatsanwaltschaft eingeleitet hatte, ist aber inzwischen wieder eingestellt.

Polizisten wollten "ihre Ruhe"

Höchstwahrscheinlich traf die Streifenwagenbesatzung wenig später auf den radelnden Christian W. Weil der aber vorgab, von einer Schlägerei nichts zu wissen - obwohl auch er nach Robert S.s Aussage von den Verteidigungsversuchen der Schauspieler sichtbare Blessuren im Gesicht davongetragen haben müsste -, ließen die Beamten ihn wieder laufen. Auch später, im Krankenhaus, sagt Robert S., seien die dorthin beorderten Polizisten offenbar eher daran interessiert gewesen, "ihre Ruhe zu haben, anstatt mit uns über das Geschehene zu reden".

S.s Anwältin Martina Arndt wundert sich zudem, dass die Fahndung so schleppend anlief. Schließlich habe es sich bei den mutmaßlichen Tätern und jetzt Angeklagten um "alte Bekannte" gehandelt. Und das nicht nur bei der Polizei: Im Gerichtssaal sitzt Robert S. bei seiner Aussage auf einer Höhe mit Tobias L. Die beiden waren sich im September 2006 bereits einmal begegnet: Nach gegenseitigen Provokationen an einer Halberstädter Tankstelle hatten L. und ein paar Kumpels aus der rechten Szene den Schüler und einige Bekannte mit Bierflaschen beworfen. S.s Aussage damals - übrigens vor dem gleichen Richter, der auch das aktuelle Verfahren leitet - bescherte L. ein halbes Jahr auf Bewährung. Und beiden wenig später eine unangenehme Begegnung - ausgerechnet auf der Toilette des "Spucknapfs". L. und seine Kumpels erkannten den schmächtigen Schüler als denjenigen, der sie "verpfiffen" hatte. "Da konnte ich gerade noch rechtzeitig kehrtmachen und abhauen", sagt S. Ob der Angeklagte L. allerdings beim Überfall auf die Theatergruppe dabeigewesen sei - das könne er nicht sagen.

Personalien aufschreiben, statt Täter verfolgen

Auch der französische Tänzer Julian A., der bei seiner Aussage nicht nur von seiner Anwältin Franziska Nedelmann, sondern auch von einer Dolmetscherin unterstützt wird, kann keinen der neben dem Haupttäter Christian W. sitzenden Angeklagten eindeutig als Schläger identifizieren. Allerdings ist er sich ziemlich sicher, dass sich nach dem ersten Faustschlag W.s eine Gruppe von vier bis fünf weiteren Angreifern ins Getümmel stürzte. Einer davon habe ein auffälliges rotes Hemd getragen. Die Schläger, betont auch A., seien nach dem Überfall noch eine Weile in der Nähe des Tatorts gewesen, auf der anderen Seite der Kreuzung vor dem "Spucknapf". Doch es habe nichts genützt, dass unter anderem seine Freundin die Polizeibeamten auf die mutmaßlichen Täter aufmerksam machte. "Unsere Personalien schienen in dem Moment wichtiger", sagt er - und zuckt resigniert mit den Achseln.

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