Mordprozess gegen elf Hells Angels Mörderbande oder Hasenfüße?

  • von Kuno Kruse
Rocker stürmen in ein Wettcafé, das Opfer wird von sechs Schüssen tödlich getroffen. Der Angriff in Berlin soll ein Racheakt der Hells Angels gewesen sein. Elf Männer sitzen auf der Anklagebank.

Vor dem Eingang des Berliner Krimimalgerichts Mannschaftswagen der Polizei, Absperrgitter, Menschenschlangen. Nur 30 Zuschauer werden in den Saal 500 eingelassen, in dem vor der 15. Strafkammer des Landgerichts heute Vormittag der Prozess gegen Männer und angeblichen Hintermänner des Rollkommandos auf ein Wett-Café in Reinickendorf vom 10. Januar eröffnet wurde. Die Anklage: gemeinschaftlich begangener Mord.

Der schwer bewachte Saal ist nach Auskunft des Oberstaatsanwalts Sjors Kamstra der größte im Gebäude. Doch er ist schon gefüllt mit Anklägern und Nebenklägern, mit 23 Verteidigern, die einander in dem Großverfahren ablösen werden, mit Polizisten und Journalisten.

Eine Mutter klagt an

Fotografen, TV- und Radioreporter umringen vor dem Saal die Mutter des Opfers Tahir Ö., die mit einem großen Bild ihres toten Sohnes im Arm weint und anklagt. Die mutmaßlichen Täter und auch die Polizei, die ihren Sohn nicht schützte. Eine gebrochene Frau, und doch bleibt der Auftritt der Mutter mit dem weißen Kopftuch eine befremdende Mischung aus Inszenierung und wirklicher Verzweiflung.

Die Rechtsanwälte beklagen die Abweisung von Prozessbesuchern durch Beamte des Landeskriminalamtes. Die Zuschauer, die in den Saal gefunden haben, sind fast ausnahmslos Ehefrauen, Verwandte und enge Freunde der Angeklagten. Sie geben Ihnen Zeichen, schenken Lächeln, doch die Angeklagten sitzen hinter dickem Panzerglas. Der Schütze und ein aus den Hells Angels ausgestiegener Zeuge sind noch einmal durch dicke Scheiben von den anderen abgetrennt. In ihrer kräftigen Statur und ihren geschorenen Köpfen wirken die Männer wie Brüder. Und das wollen sie auch sein.

Die Tat im Video

Sie geschah am 10. Januar dieses Jahres und dauerte 25 Sekunden: 13 wild entschlossene Kerle stürmen kurz vor elf Uhr abends das Wettcafé "Expekt" im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Einige sind vermummt, fast alle haben ihre Kapuzen hochgezogen, sie stiefeln vorbei an der Theke, vorbei an verblüfften Gästen, die in einem zweiten Raum an weiß gedeckten Tischen Karten spielen, schnurstracks und im Gänsemarsch weiter in das Hinterzimmer, in dem weitere Männer an rechteckigen Tischen zocken.

Der erste des hereinstürmenden Kommandos zieht blitzschnell eine Pistole und schießt wie wild aus nächster Nähe achtmal in Richtung der Kamera. Dort sitzt, von dem Weitwinkelobjektiv nicht mehr erfasst, Tahir Ö..

Sechs der Kugeln, so wird der Gerichtsmediziner später zählen, treffen lebenswichtige Organe. Der Deutschtürke stirbt, wie seine Freunde am Tisch berichten, in Sekunden mit einem letzten "Allah". Er wurde 26 Jahre alt.

Der panische Schütze drückt mit dem Rücken eine Hintertür auf und flieht. Schüsse und Flucht dauern nur fünf Sekunden. Die in den Räumen installierten Kameras erfassen die anderen aus der Gruppe, die, vom hinteren Raum teilweise weit entfernt und von den Schüssen offenbar erschrocken, aus dem Laden rennen.

Alle Männer der Sturmtruppe gelten als identifiziert. Neun von ihnen stehen vor Gericht, zwei setzten sich ins Ausland ab. Zwei weitere sind angeklagt, die anderen zu der Tat angestiftet zu haben. Einer ist Kadir P., der Präsident des Hells Angels Charters Berlin City. Auch er ist Deutsch-Türke.

Plan oder Panik?

Die Tat ist dokumentiert. Doch die Fragen, über die das Gericht zu entscheiden hat, werden sein: War sie so geplant? Wenn ja, von allen? Gab es einen Befehl? Oder entsprang alles der Dynamik der Situation?

Die Staatsanwaltschaft hat einen zentralen Zeugen. Er war einer der aufgeheizten Männer, die durch das Café stürmten. Von anderen auf dem Video erkannt und verhaftet, identifizierte Kassa Z. auch seine Club-Brüder und ist nun ein von der Polizei beschützter Zeuge, der zur Aufklärung einer anderen, inzwischen bereits verhandelten Mordtat von zwei Mitgliedern der Hells Angels beitragen konnte.

Der muskelbepackte Mann iranischer Abstammung hat in der Szene den Namen "Perser." Er war ein guter Freund des erschossenen Tahir Ö., und er sagt, es seien die Worte der Mutter des Getöteten gewesen, die ihn geläutert und zur Aussage bewogen hätten. Warum, so habe sie ihn gefragt, hätte er ihren Sohn Tahir so im Stich gelassen.

Mit dem Messer vor der Disco

Tatsächlich scheinen fast alle Beschuldigten das Opfer seit Jahren gekannt zu haben. Auch Tahir Ö. war ein durch Anabolika und Hanteln gestähltes Kampfpaket, das immer wieder mit dem Strafgesetz, und manchmal auch mit Gleichgesinnten in Konflikt kam. Eingeleitet hatte das Drama einer dieser typischen Zusammenstöße, wie sie immer wieder vor Diskotheken zu beobachten sind. Einer Gruppe junger Männer wird von den um die Sicherheit der Gäste fürchtenden Türstehern der Eintritt verweigert. Die Aussperrung ist auch eine Kränkung, es geht um Stolz und Macht.

Tahir Ö. zog, als man seine aggressive Clique, darunter ein junger Polizist, nachts um drei Uhr nicht in den Techno-Club "Traffic" lassen wollte, das Messer und stach mehrmals zu. Er und seine Clique wussten, auf wen sie an diesem 13. Oktober vergangenen Jahres losgingen. Und das unter den verletzten Türstehern Mitglieder der Hells Angels waren.

Dem Rocker-Boss platzt der Kragen

Das wollte ihm deren Präsident Kadir P., der schon häufiger von dem vor Kraft strotzenden Tahir Ö. gereizt worden war, nicht durchgehen lassen. Und der Rocker kochte, als man ihm auch noch zutrug, dass Tahir Ö. ihn und die anderen Hells Angels auch noch verhöhnt hatte. Kadir P. schrie seinen Ärger laut ins Mobiltelefon, er zeterte und sagte diese Worte, vom Ficken und den Müttern, die in den vergangenen Jahren in den deutschen Sprachgebrauch eingerückt sind. Die Polizei hörte alles mit.

Kadir P. gilt nicht gerade als ein liberaler unter den Rocker-Präsidenten. Der ehemalige Box-Profi befiehlt, in seinem Charter gilt nicht das Prinzip "one man one vote", wie es die Satzungen der Hells Angels vorschreiben. So berichtet es, nach Informationen von "Spiegel-Online", zumindest der ausgestiegene Zeuge. Selbst über die Aufnahme neuer Mitglieder bestimme allein Kadir P.. Deshalb geht auch die Staatsanwaltschaft davon aus, dass im dem türkischen Ableger des Clubs in Berlin nichts ohne dessen Order geschehe. So müsse auch der Mord an Tahir Ö. von Kadir P. befohlen worden sein, um den Angriff auf die Türsteher zu rächen.

Der Zeuge der Anklage

Das Problem der Anklage aber ist: Genau das sagt der Zeuge nicht, der in den anderen Fällen offenbar glaubhaft ausgesagt hat. Kadir P., erzählt er, habe sie an dem Abend aufgefordert: "Zeigt Präsenz!" Und er sagte laut "Spiegel-Online", dessen Reportern die Aussage zugespielt wurde, auch: "Kadir ist kein Doofer. Der würde sich nicht vor 30 oder 40 Leute stellen und sagen: Bringt den mal um."

Die Hells Angels hatten an dem Abend einen Anruf aus dem Wettcafé bekommen. Ein anderer Freund von Tahir Ö. hatte ihnen, wohl auf der Suche nach neuen Freunden, verraten, dass der Türke gerade in dem Zocker-Laden sei. Ö., der davor mit schusssicherer Weste und Pistole durch Berlin gelaufen war, war nun schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen worden. Deshalb stürmten die Rocker sofort los.

Präsenz zeigen oder schießen?

Aber was bedeutet das: "Zeigt Präsenz"? Heißt es: Zeigt ihm wo der Hammer hängt? Oder: Verpasst ihm eine ordentlich Abreibung? Und lässt sich da wirklich heraushören: Erschießt ihn?

Auch nach der Bluttat erscheint die Reaktion des Rockerpräsidenten nicht unbedingt so, als sei sie wirklich von langer Hand geplant. "Ich möchte jetzt keine großen Fragen oder Diskussionen haben", soll Kadir P. nach Aussage des Zeugen Kassa Z. vor einem Burger-Restaurant gesagt haben, bei dem sich die offensichtlich völlig verwirrte Gruppe nach dem Überfall auf das Wettcafé wieder traf. "Es ist so, wie es ist, und fertig! Nehmt euch einen Zettel und schreibt jeder seinen Anwalt auf." Das klingt eher nach einer nachträglichen Schadensbegrenzung.

Deshalb legt die Anklagebehörde nach: Aus mitgeschnittenen Telefonaten wissen die Ermittler des Landeskrimimalamtes, dass Kadir P. in enger Verbindung zu einem Yakup S. steht. Und der ist der Bruder des Türstehers, dem vor der Diskothek "Traffic" die Hand durchstochen wurde. Über die Tat aber haben die beiden nie am Telefon gesprochen.

Polizisten soll der Liebhaber teuren Autos gesagt haben, dass man es selbst in die Hand nehmen würde, wenn die Polizei nicht gegen den Messerstecher Tahir Ö. vorgehen würde. Die Ermittler stellen deshalb die Vermutung an, dass der im Milieu als mächtig bekannte Yakub S. beim Rockerpräsidenten eine mehr als angemessene Bestrafung des streitsüchtigen Ö. angemahnt hatte. Kurzum: ein Mordauftrag. Das Motiv: Vergeltung für die Verletzung des Bruders.

Mehr Eliminator als Moderator

Aber auch Kadir P., eine der umstrittensten Figuren der Rocker-Szene, gilt eher als Eliminator denn als Moderator. Auch deshalb, weil er früher als Anführer eines Bandido-Chapters nachts im Pulk und bewaffnet mit der Machete Jagd auf überraschte Hells Angels gemacht hatte, bevor er dann vor fünf Jahren überraschend zu ihnen hinübergewechselt war. Diese gestatteten ihm, einen türkischen Hells-Angels-Charter in Berlin zu gründen, der später zum Charter "City" wurde und bis heute in fragiler Partnerschaft zu den bestehende Berliner Chartern steht. Die dementieren, dass die Übernahme der alten Feinde in die eigenen Reihen eine Kapitulation vor deren grenzenloser Gewalttätigkeit war.

Der Berliner Polizei, die die Tiraden des tobenden Rockerpräsidenten mitgeschnitten hatte, wurde später vorgeworfen, Tahir Ö. nicht gewarnt zu haben. Reporter wiesen nach, dass Kadir P.s Aufenthaltsort an dem Abend noch vor der Tat durch eine SMS der Fahnder geortet wurde. Die Familie Ö. verdächtigt die Polizei deshalb sogar, sie habe Tahir als Lockvogel benutzt. "Wenn die Polizisten ihn geschützt hätten, könnte mein Sohn noch leben. Er war elegant und sauber", klagt Ö.s Mutter vor dem Saal. "Er hat doch gar nichts getan."

Ganz ahnungslos kann Tahir Ö. aber nicht gewesen sein. Denn auch an dem Abend, als ihn die tödlichen Schüsse trafen, hatte er seine Pistole am Mann. Nur die schusssichere Weste hatte er beim Kartenspiel abgelegt.

Das Geständnis des Schützen

Nun kann die Anklage nicht nur mit einem Zeugen aufwarten. Sie hat einen weiteren geständigen Täter. Er heißt Recep O. und ist tatsächlich der Mann, der die Schüsse abgefeuert hat. Aber auch er liefert der Anklage, wie schon der Zeuge, nicht ganz das, was die sich gewünscht hätte. Im Gegenteil. Recep O. hat sein Geständnis handschriftlich auf acht Seiten niedergeschrieben und sagt darin: Er habe aus Panik geschossen. Das berichtete, von der Polizei danach bestätigt, die Berliner Boulevardzeitung "B.Z.", der das Geständnis vorliegt. Darin schreibt der geständige Täter, er sei an dem Abend gerade vom Kiosk seines Onkels zum nahen Treffpunkt der Hells Angels hinübergegangen.

Nach wenigen Minuten sei einer der Rocker auf ihn zugekommen und habe ihn aufgefordert mitzukommen. Tahir Ö., den er selbst auch gut kannte, würde vor einem Wettbüro auf sie warten. Dort habe man ihm eine Waffe in die Hand gedrückt. Er sollte vorgehen und sei nun selbst für sein Leben verantwortlich. Er habe keine Wahl gehabt. Tahir habe sich auffällig bewegt und er habe geglaubt, dass er etwas in der Hand hielte. Möglicherweise eine Waffe.

Leider lässt sich auf den Videoaufzeichnungen nicht erkennen, wie Tahir Ö. sich bewegt hat. Die Waffe des Getöteten haben seine Freunde vor der eintreffenden Polizei versteckt. Sie wurde erst später abgegeben.

Auch das Video zeigt keinen kalten Schützen. Könnte es also wirklich das Adrenalin gewesen, das den aufgeregten Mann in dem Moment steuerte? Oder ist dies, wie es die Polizei sagt, nur ein bestelltes Geständnis, um dem Anstifter Kadir P. und all die anderen zu schützen?

Diese wird die zentrale Frage des Prozesses werden. Es wird Monate, vielleicht Jahre dauern, bis sie beantwortet sein wird.

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos