Es steht Aussage gegen Aussage, wie so oft in solchen Fällen. Die Polizei in Hessen ist mit dem Vorwurf rechtswidriger Gewalt gegen einen Bürger konfrontiert, sie sieht die Sache anders. Jetzt sind bislang als gelöscht geltende Videoaufnahmen des Einsatzes gegen den Mann wieder aufgetaucht und zeigen, was wirklich geschehen ist. Oder doch nicht? Der Fall ist ein Musterbeispiel dafür, wie Videotechnik dabei helfen kann, der Wahrheit näher zu kommen – aber auch dafür, wo ihre Grenzen liegen.
Der Vorfall spielte sich am Abend des 8. September 2020, einem Dienstag, im hessischen Idstein, rund 25 Kilometer nordwestlich von Frankfurt am Main, ab und machte vor allem in der Regionalpresse Schlagzeilen. Der damals 38-jährige Liam Conway betrat die Polizeistation im Zentrum der 25.000-Einwohner-Stadt. Sein Vater war in einen Verkehrsunfall verwickelt, Conway wollte den 74-Jährigen abholen.
Situation vor Polizeiwache in Idstein eskalierte
Es soll in der Wache einen Streit um ein Glas Wasser für den Vater gegeben haben. Conway sei "verbal hoch aggressiv" gewesen, habe versucht, eine Beamtin zu schlagen, berichtete die Polizei in einer Pressemitteilung einen Tag später. Der 38-jährige Gastronom und Kickbox-Trainer sei daraufhin aus der Polizeistation gebracht worden. "Vor der Tür versuchte er, nach dem Pfefferspray eines Polizisten zu greifen. Er musste auf den Boden gebracht und gefesselt werden. Erst nach der Fesselung beruhigte sich der Mann." Auch das schrieb die Polizei und ähnlich stehe es auch in den Akten zu dem Vorfall, sagt Conways Anwalt Michael Heuchemer im Gespräch mit dem stern. Sein Mandant soll außerdem nach den Polizisten getreten, sie geschubst und sich an der Tür der Polizeiwache festgehalten haben, erklärten die Beamten demnach in ihren Aussagen.
Conway habe "selbstverständlich keinen Widerstand" geleistet, widersprach Anwalt Heuchemer schon damals. Vielmehr seien die Beamten völlig unvermittelt auf Conway zugestürmt, hätten ihn zu Boden gebracht und geschlagen. Fotos aus dem September 2020 zeigen Conway mit blutigen Wunden am Kopf, er hatte nach eigener Aussage noch Tage nach dem Vorfall Kopfschmerzen und Wortfindungsstörungen – und wenig später eine Anzeige im Briefkasten, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.
"Als Betroffener ist man durch die Verletzungen und das Ermittlungsverfahren natürlich gleich doppelt bedient", sagt Anwalt Heuchemer dem stern. Das klingt harmloser, als es gemeint ist. Denn wer glaubt schon einem einzelnen Betroffenen, wenn gleich mehrere Polizeibeamte das Gegenteil behaupten? Im schlimmsten Fall müsste Conway ins Gefängnis, würde ein Gericht den Aussagen der beteiligten Beamten folgen.
Bloß, wie nun herauskommt: Ganz so eindeutig, wie beide Seiten den Fall jeweils schildern, ist er offenbar nicht. Erst jetzt aufgetauchte Videobilder aus den Überwachungskameras vor der Idsteiner Polizeistation zeigen erstmals objektiv das Geschehen – und doch kann es durch sie allein nicht lückenlos aufgeklärt werden. Über die Aufnahmen hatte zunächst die "Frankfurter Rundschau" (FR) berichtet, auch dem stern liegen sie vor.

Auf ihnen ist zu sehen, dass Conway bereits die Tür der Wache geöffnet hat, als einer der Beamten ihn plötzlich von der Seite in den Würgegriff nahm und versuchte, ihn zu Boden zu bringen. Der Mann widersetzte sich den Versuchen. Was gesagt wurde, ist nicht zu hören, die Aufzeichnungen sind ohne Ton. Es entwickelte sich eine unübersichtliche Rangelei, in deren Verlauf es zunächst drei, später vier Beamten nur mit Mühe gelang, den 38-Jährigen zu überwältigen. Mit vereinten Kräften fixierten die Polizisten ihn auf dem Boden und brachten seine Hände auf den Rücken. Zeitweilig kniete ein Beamter auf dem Körper des Überwältigten. Auch zwei Schläge mit der Hand und der Faust des Polizisten gegen den Kopf Conways zeigen die jeweils rund vierminütigen Aufnahmen aus zwei Perspektiven. Sein Gesicht schrammte während der Festnahme über den Boden. Was im Gebäude und im Windfang der Wache passiert ist, ehe die Beteiligten vor die Tür traten, ist auf den Videos nicht erkennbar. Dass der Beschuldigte vor der Tür versucht hat, nach dem Pfefferspray eines Beamten zu greifen, geht aus den Aufnahmen nicht hervor.
Zeigen die Aufnahmen rechtswidrige Polizeigewalt?
Davon spricht auch die Polizei inzwischen, mehr als zwei Jahre später, nicht mehr. Dafür bestätigt sie die Gewaltanwendung. Beim Hinausleiten Conways aus der Wache sei es zu "zu Widerstandshandlungen und zum Einsatz von unmittelbaren Zwang durch körperliche Gewalt durch die eingesetzten Polizeibeamten", erklärt das Polizeipräsidium Westhessen auf stern-Anfrage zu den Aufnahmen. "Solche Situationen sehen nie schön aus, auch wenn sie im jeweiligen Fall geboten, rechtmäßig und unvermeidlich sind", sagt Präsident Felix Paschek.
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Klar ist: Polizisten dürfen in bestimmten Situationen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Gewalt anwenden, auch zuschlagen. Der stern hat die Aufnahmen einem Experten, der selbst jahrelang Polizist war, vorgelegt. Den Grund für das Eingreifen der Beamten kenne er nicht, schickt er voraus. Einen Gewaltexzess sehe er auf den Videos nicht. Auch er sagt: "Vollzugsgewalt sieht nie nett aus. So eine Situation ist für die Polizisten nicht ungefährlich, ihr Gegenüber könnte zum Beispiel beißen. Dass es selbst für die drei Polizisten schwierig ist, den Mann zu bändigen, das sieht man. Diesen Widerstand muss man brechen." Dazu seien auch sogenannte Schockschläge zulässig. Aber: "Zwei Schläge auf den Kopf – da hätte ich ein Fragezeichen", meint der Experte. "Der Betroffene hat eine Platzwunde, da frage ich mich schon, ob das erforderlich war. Angesichts der massiven Widerständigkeit würde ich den Einsatz jedoch nicht pauschal verurteilen." Liam Conway sagte 2020 in der FR, er habe nur zum Eigenschutz "passive Gegenbewegungen" gemacht.
Videos galten als verschwunden – und tauchen wieder auf
So umstritten wie die Bewertung des Geschehens ausfällt, so fragwürdig ist aus Sicht von Anwalt Heuchemer auch der Umgang der Polizei mit den wichtigsten Beweismitteln in dem Fall, den beiden Videoaufzeichnungen. Zwar hatten auch Passanten Teile der Festnahme gefilmt – auf den Aufnahmen ist unter anderem zu sehen und zu hören, wie der auf dem Boden liegende Conway um Hilfe ruft, aber nicht der gesamte Vorgang. Das ist jetzt anders und der Hartnäckigkeit von Conways Anwalt sowie insbesondere der Arbeit der Wiesbadener Staatsanwaltschaft zu verdanken. Auf ihre Initiative hin konnten die Aufnahmen aufwendig rekonstruiert werden.
"Positiv überraschend" nennt Michael Heuchemer die Wende in dem Fall. Denn obwohl der Anwalt nach dem Vorfall bei der Polizei darauf gedrungen hatte, die Aufnahmen zu sichern, geschah dies nicht. Es hieß: Die Videos wurden wie technisch vorgesehen nach 21 Tagen überschrieben. Sie gingen damit nicht wie gefordert an die Staatsanwaltschaft. Ein Beamter erklärte, er habe die Datensicherung wegen anderer Aufgaben mehrere Wochen lang zurückgestellt – und dann seien die Aufnahmen gelöscht gewesen. Mehrere Kollegen sollen sich die Videos außerdem zuvor angesehen haben. Auf die Idee, sie zu sichern, ist dabei offenbar niemand gekommen. Das wichtigste Beweisstück in dem Fall schien verloren.
"Sehr ärgerlich" sei das Versäumnis, sagte der damalige Präsident des Polizeipräsidiums Westhessen, Stefan Müller, anschließend. Bei den Aussagen und Vermerken der Beamten falle auf, dass sie ungewöhnlich einheitlich abgestimmt wirkten oder sie in den entscheidenden Momenten nichts gehört oder gesehen haben wollen, gibt Anwalt Heuchemer zu bedenken. Es seien "nachweisliche Falschangaben" gemacht worden, so der juristische Beistand Conways. Die Einlassungen seien "passend gemacht" worden. Er vermutet, nach dem Überschreiben der Dateien habe man in der Idsteiner Wache gedacht, die ganze Angelegenheit sei "für alle Zeiten vom Tisch".
Ist sie nicht. Durch die Wiederherstellung des Videos wird der Abend des 8. September 2020 die Justiz in Hessen noch eine Weile beschäftigen. Nun muss sie sich nicht mehr ausschließlich auf die Aussagen von Beteiligten und möglichen Zeugen verlassen. Allerdings: Die Ermittlungsverfahren gegen die Beamtin und zwei ihrer Kollegen, die in dem Video zu sehen sind, wurden nach Sichtung der Aufnahmen eingestellt. Das teilt die Wiesbadener Staatsanwaltschaft dem stern mit. Die Anklagebehörde sieht die Vorwürfe gegen die drei ausgeräumt. Gegen den vierten Polizisten wird weiter ermittelt, wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt nach den Schlägen gegen den Kopf von Conway. Das Verfahren gegen den Beamten geht weiter.
Am Ende steht: Aussage gegen Aussage
Conway und sein Anwalt haben Beschwerde gegen die Einstellung der anderen drei Verfahren eingelegt. Für sie steht weiterhin eine ganze Reihe von Vorwürfen im Raum: Unter anderem Körperverletzung im Amt, falsche Verdächtigung, Strafvereitelung im Amt, dazu gebe es zivilrechtliche Ansprüche von Opfer Conway gegen eine Polizistin. "Dies werden und müssen wir durchsetzen", zeigt sich Heuchemer überzeugt.
Die beteiligten Beamten sind weiter im Dienst. Nach Abschluss des Strafverfahrens will das Polizeipräsidium Westhessen disziplinarische Konsequenzen gegen den beschuldigten Polizisten prüfen. "Wir nehmen jeden Vorwurf von Fehlverhalten von Polizeibediensteten sehr ernst“, sagt Polizeipräsident Paschek. "Aber auch für Polizeibeamte gilt die Unschuldsvermutung."
Das Verfahren gegen Liam Conway wegen des mutmaßlichen Widerstandes sei zunächst einmal zurückgestellt worden, bis die Ermittlungen gegen den Beamten abgeschlossen sind, berichtet Anwalt Heuchemer. "Wir rechnen nach der derzeitigen Aktenlage mit einer zeitnahen vollumfänglichen Einstellung der Ermittlungen gegen unseren Mandanten und der Anklageerhebung gegen die Polizisten."
Die wieder aufgetauchten Videoaufnahmen zeigen zweifelsfrei, was am 8. September 2020 vor der Polizeistation in Idstein geschehen ist. Aber die Bewertung des Vorfalls müssen Menschen übernehmen, trotz aller Technik. Am Ende steht damit möglicherweise wieder: Aussage gegen Aussage.
Quellen: "Frankfurter Rundschau" (1), "Frankfurter Rundschau" (2), Polizeipräsidium Westhessen, Staatsanwaltschaft Wiesbaden, Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung