Es ist noch dunkel, als Valdemilson de O. in Bremen Richtung Straßenbahn geht. 3.30 Uhr, der Koch hat Frühschicht. Sein Weg zur Straßenbahn führt an einer Kirche vorbei. Dort sieht er einen Mann stehen. Er ist groß, fast 1,80 Meter, dunkel gekleidet, durchtrainiert. Der Koch hat ein ungutes Gefühl, wechselt die Straßenseite. Dann geht alles blitzschnell: Der Fremde holt ihn ein, schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht und wirft ihn zu Boden. "Polizei! Hilfe!", schreit Valdemilson de O. Er glaubt an einen Überfall. Der Fremde zückt seine Waffe. "Ich bin die Polizei", sagt er.
An diesem frühen Morgen im Mai 2013 hat es 800 Meter von der Kirche entfernt einen Wohnungseinbruch gegeben. Der große, dunkel gekleidete Mann ist der Zivilpolizist Marcel B., der an der Kirche gelauert und Valdemilson de O. für den Täter gehalten hat. Er bricht dem Koch das Jochbein sowie Knochen an der Augen- und der Kieferhöhle.
Opfer von Polizeigewalt werden kriminalisiert
Seit über fünf Jahren beschäftigt sich die Bremer Justiz inzwischen mit dem Fall. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die Geschichte von Valdemilson de O. zeigt exemplarisch, was Opfer von Polizeigewalt in Deutschland häufig durchmachen: Sie werden kriminalisiert. Die Polizei ermittelt gegen eigene Kollegen nicht immer gründlich. Polizisten lügen vor Gericht, um Kollegen zu decken.
Im Mai 2017 hat der Bundestag die Strafe für Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verschärft. Angreifern drohen nun, je nach Schwere des Falls, Mindeststrafen von drei oder sechs Monaten. Besonders schwere Fälle können mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Für Opfer von Polizeigewalt tut sich dagegen wenig. In Deutschland ermitteln immer noch Polizisten gegen Kollegen, die zugeschlagen haben sollen. In Ländern wie Großbritannien und Irland sind dafür unabhängige Kommissionen zuständig. Die Menschenrechtskommissare der Europäischen Union und Amnesty International fordern Deutschlands Innenminister schon seit Jahren auf, unabhängige Ermittler einzusetzen. Bislang vergeblich. Schelte gab es auch vom Europäischen Gerichtshof. Im November 2017 kritisierten die Richter in einem Urteil die Münchner Polizei, weil sie einen Übergriff auf zwei Fußballfans nicht ordentlich ermittelt hatte.

Prügelnde Beamte sind ein Tabuthema in Deutschland. "Körperverletzung im Amt durch Polizisten ist bislang kaum empirisch untersucht", sagt Tobias Singelnstein, Kriminologie-Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Für eine neue Studie will der Strafrechtler jetzt mit einem Expertenteam Polizeigewalt in Deutschland untersuchen. "Wir wollen wissen, ob es zum Beispiel bestimmte Personengruppen gibt, die ein höheres Risiko tragen, Opfer von Gewalt durch Polizeibeamte zu werden, und in welchen Situationen es dazu kommt."
Valdemilson de O. wurde offenbar seine schwarze Hautfarbe zum Verhängnis. Die Richter vermuten später, dass sie allein der Grund dafür war, dass Marcel B. den Koch für den Einbrecher hielt. Seine Kollegen hatten ihm über Funk keine Täterbeschreibung durchgegeben. "Racial profiling" nennen Kriminologen das: Verdächtige werden nicht aufgrund objektiver Kriterien kontrolliert oder festgenommen, sondern wegen ihrer Hautfarbe. Im August dieses Jahres hat das Oberverwaltungsgericht Münster entschieden, dass Personenkontrollen wegen dunkler Hautfarbe rechtswidrig seien. Andere Gerichte urteilten ähnlich.
Valdemilson de O. war einmal Koch in einem Szenelokal, er kennt viele, die sich nach dem Vorfall im Mai 2013 für ihn einsetzen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sein Fall eine ungewöhnliche Wende nimmt. Schon am Vormittag nach der Attacke stehen zwei Freundinnen von de O. auf der Wache und wollen vom Revierleiter wissen, warum ihr Kumpel von einem Polizisten zusammengeschlagen worden ist.
"Halt, Polizei!"
Der Revierleiter weiß von nichts. Marcel B. hat noch keinen Einsatzbericht geschrieben. Sein Vorgesetzter checkt, ob de O. schon einmal Ärger mit der Polizei hatte. Doch der Koch ist ein unbescholtener Bürger. Er habe sich gleich gedacht, dass der Einsatz "unglücklich" verlaufen sei, wird der Revierleiter später vor Gericht sagen. Er fährt ins Krankenhaus und ist entsetzt. Valdemilson de O. habe ausgesehen, "als hätte ihn ein Pferd getreten". Der Revierleiter informiert das Referat für interne Ermittlungen – die Abteilung der Innenbehörde, die gegen Polizisten ermittelt.
Die Knochenbrüche im Gesicht von Valdemilson de O. müssen operiert werden. Ein Schnitt an der Hand wird genäht. Elf Tage lang bleibt der Koch im Krankenhaus. Freunde besorgen ihm eine Anwältin. Britta von Döllen-Korgel fährt in die Klinik, fotografiert die Verletzungen ihres Mandaten. Sie wundert sich später darüber, so sagt sie, dass es die einzigen Beweisbilder in der Akte bleiben. Ob die Kripo tatsächlich keine Bilder gemacht hat, lässt die Polizei dem stern gegenüber unbeantwortet.

Unterdessen hat Marcel B. seinen Einsatzbericht geschrieben und Valdemilson de O. wegen Widerstands angezeigt. "Halt, Polizei!", habe er gerufen und seinen Dienstausweis hochgehalten. Valdemilson de O. sei einfach weitergelaufen und habe in seine Jackentasche gegriffen. Deshalb habe B. seine Waffe gezückt. "Mit geballten Fäusten" sei der Koch dann auf ihn losgegangen.
Fast jede Strafanzeige wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizeibeamte wird mit einer Gegenanzeige wegen Widerstands beantwortet. Und fast immer steht Aussage gegen Aussage. "Nur in weniger als drei Prozent der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt kommt es am Ende zu einer Anklage", sagt Polizeiforscher Singelnstein.
Der Angriff auf den Koch gehört zu den seltenen Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Polizisten erhebt. Zeugen haben sich gemeldet, die gesehen haben wollen, dass Valdemilson de O. völlig passiv gewesen sei. Die Aus sage des Polizisten scheint außerdem unlogisch: Valdemilson de O. ist dem Polizeibeamten körperlich weit unterlegen. Der Koch ist 54, gerade mal 1,58 Meter groß und zuckerkrank. Marcel B. ist 34, überragt den Koch um 20 Zentimeter, trainiert Kraftsport und hatte eine Waffe. Warum sollte der kleine, kranke Mann auf dem Weg zur Arbeit einen bewaffneten Polizisten angreifen?
Uneidliche Falschaussage
Das Amtsgericht Bremen verhandelt im Sommer 2015 drei Tage lang. Marcel B. bleibt bei seiner Version: Der Koch sei auf ihn losgegangen. Zwei Streifenpolizisten, die zur Verstärkung zum Tatort gerufen wurden, bestätigen, dass Valdemilson de O. renitent gewesen sei. Dass Polizisten sich gegenseitig decken, ist ebenfalls typisch. Als der Asylbewerber Oury Jalloh 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, scheiterten die Richter des Landgerichts bei der Aufklärung am Korpsgeist. Die Unwilligkeit der Polizisten, sich zu erinnern, brachte Richter Manfred Steinhoff damals in Rage. "Das Ganze hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun", schimpfte er. Der Tod des Asylbewerbers ist noch immer unaufgeklärt. Nun sollen zwei Sonderermittler im Auftrag des Landes Sachsen-Anhalt die Akten noch einmal prüfen.
Auch im Prozess gegen Marcel B. finden die Richter deutliche Worte für den Korpsgeist der Polizei. Die Aussagen der Kollegen seien "ersichtlich davon geprägt, zur Unterstützung des Angeklagten, eine wie auch immer geartete Widerstandshandlung zu konstruieren", schreiben sie in ihrem Urteil. Der Polizist hätte Valdemilson de O. zwar festhalten und zu Boden werfen dürfen. Es sei jedoch "in keiner Weise gerechtfertigt" gewesen, ihn "ohne nachvollziehbaren Grund diverse Male zu schlagen". Das Amtsgericht verurteilt Marcel B. zu einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung. "Ich sitze hier jetzt seit 20 Jahren", sagt der Richter. "Solche Verletzungen nach einem Polizeieinsatz habe ich noch nicht gesehen."Folterschiff crime Heftstück 15.40
Nach dem Urteil wird der Beamte vom Dienst suspendiert. Seine Bezüge werden auf etwa 2000 Euro gekürzt. Da die Strafe ein Jahr übersteigt, würde sie seine Entlassung als Polizeibeamter bedeuten. Marcel B. legt Berufung ein. Wieder dauert es zwei Jahre, bis das Landgericht Bremen im Sommer 2017 verhandelt. Diesmal verweigern die beiden Polizisten, die ihren Kollegen in erster Instanz gedeckt haben, die Aussage. Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen sie wegen uneidlicher Falschaussage.
Auch die Richter am Landgericht kommen wie das Amtsgericht zu der Überzeugung, dass der Polizist "die Widerstandshandlungen konstruiert hat, um seine übermäßige Gewaltanwendung zu verdecken beziehungsweise zu rechtfertigen". Sie bestätigen das Urteil des Amtsgerichts. "Taten wie diese sind geeignet, das Vertrauen der Bürger in die Integrität des Rechtsstaats in besonderem Maße zu erschüttern", schreibt die Vorsitzende Richterin in der Urteilsbegründung.
Erst jetzt, über vier Jahre nach jenem verhängnisvollen Morgen im Mai 2013, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Valdemilson de O. wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ein. Marcel B. legt gegen das Urteil Revision ein. Mit Erfolg. Im März des vergangenen Jahres hebt das Oberlandesgericht Bremen das Urteil des Landgerichts auf. Zwar zweifeln die Richter nicht daran, dass der Polizist den Koch zu Unrecht geschlagen und schwer verletzt hat. Aber das Landgericht habe ihn zu hart bestraft. "Generalpräventive Überlegungen" wie die, dass solche Taten das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat erschüttern könnten, dürften keine Rolle spielen. Sie seien schon durch den Straftatbestand "Körperverletzung im Amt" abgedeckt. Nun muss das Landgericht neu verhandeln. Und Marcel B. kann hoffen, wieder als Polizist arbeiten zu dürfen.
Zerstörtes Leben
Das Verfahren gegen die beiden Polizisten, die versucht haben, ihn zu decken, ist inzwischen eingestellt worden. In einem Fall sieht die Staatsanwaltschaft zwar einen Anfangsverdacht, aber keinen "hinreichenden Tatverdacht", der eine Verurteilung wahrscheinlich machen würde. In dem anderen Fall sieht die Staatsanwaltschaft nur eine "geringe Schuld". Dass Polizeibeamte vor Gericht versucht haben, einem Unschuldigen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte anzuhängen, ist für die Staatsanwaltschaft offensichtlich keine große Sache.
Valdemilson de O. hat sich nie von dem Polizeiübergriff erholt. Noch heute leidet er unter Panikattacken, ist in psychotherapeutischer Behandlung. Arbeiten kann er nicht mehr, er lebt von einer kleinen Rente, die ihm die Unfallversicherung zahlt. "Das mag pathetisch klingen", sagt seine Anwältin Britta von Döllen-Korgel. "Aber das Leben meines Mandanten ist durch diesen Polizeiübergriff zerstört worden."
