Das hat er noch nicht gesehen. Der Journalist Felix M. Steiner ist ziemlich verblüfft, als er auf einer Demonstration beobachtet, wie ein Neonazi ungehindert eine Polizeisperre passiert. Zwei Wochen zuvor hatte ihn genau dieser Neonazi in einem Zug bedroht - und nun kommt er ohne Probleme in den für Journalisten freigehaltenen Straßenabschnitt. Denn der Neonazi hält nicht nur eine Fotokamera in den Händen, sondern auch einen Presseausweis.
Immer öfter drängen Rechtsextreme als selbsternannte Journalisten aus dem Demonstrationsbereich, filmen und fotografieren aus nächster Nähe Gegendemonstranten und Journalisten. Die Fotos und Videos stellen sie ins Internet, manchmal schreiben sie sogar deren Namen dazu. Anfang März veröffentlichte die Gruppe "Anti-Antifa Sachsen" Hunderte Fotos von Demonstrationen in Magdeburg und Weimar. Die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju), Cornelia Haß warnt: "Da wird zu Hetzjagden aufgerufen." Vor knapp einem Jahr hat Steiner zum ersten Mal beobachtet, wie ein Neonazi die Pressefreiheit missbraucht. Seitdem nehmen diese Vorfälle zu.
Jetzt hat der Missbrauch eine neue Dimension erreicht. Waren es bislang einzelne Personen, die mit dieser Taktik ihre Gegenüber einschüchtern wollen, ruft die rechtsextreme Partei "Die Rechte" nun öffentlich dazu auf. Auf Facebook, ihrer Internetseite und der rechtsextremen Plattform Altermedia empfiehlt der Kreisverband Hamm, sich Presseausweise zu holen. Die Ausweise sollen sich die Neonazis beispielsweise über den Verein Jungen Presse besorgen. Der Vorsitzende der Jungen Presse, Marcus Hammes, nennt den Aufruf eine Katastrophe. Der Verein ist für Schulzeitungsredakteure und junge Medienmacher da: Mit dem Jugendpresseausweis sollen die Nachwuchsjournalisten leichter recherchieren können. Zwar prüft der Verein jeden Antrag auf mögliche demokratiefeindliche Einstellungen. Aber Hammes sagt: "Wir können nicht zu hundert Prozent die politische Gesinnung rausfinden." Schon öfter haben Rechtsextremisten versucht, den Jugendpresseausweis zu bekommen.
Für ein paar Euro Journalist werden
Auch bei der dju probierte es Haß zufolge mindestens ein Neonazi. Geklappt hat es nicht, dennoch ist Haß alarmiert: "Die Presseausweise werden dezentral in den Bundesländern ausgestellt, man kann sich vorstellen, dass da gleich ein richtiger Tourismus daraus wurde."
Und selbst wenn die Journalistenverbände die Anfragen Rechtsextremer abwehren, bleibt das Problem. Im Internet bieten Firmen für ein bisschen Wechselgeld nach ein paar Klicks den Ausweis an. Geprüft wird hier nichts.
Noch vor wenigen Jahren war ein solcher Missbrauch deutlich schwieriger. Bis 2009 war der Presseausweis ein amtlich beglaubigtes Dokument, mit einem Vermerk der Innenminister. Nur vier Berufsverbände gaben den Ausweis an hauptberufliche Journalisten aus. Dann schaffte die Innenministerkonferenz unter Horst Seehofer den amtlichen Presseausweis ab. Von nun an konnte sich jeder einen Ausweis anfertigen oder verkaufen.
Unsicherheit vor Ort
In der Fülle von Anbietern ist es für die Polizei vor Ort nicht einfach, die verscherbelten Presseausweise von seriösen Ausweisen zu unterscheiden. Der Journalist Steiner berichtet seit Jahren über die rechtsextreme Szene. Er habe schon häufiger mitbekommen, dass Einsatzkräfte überfordert waren: "Da herrscht eine große Unsicherheit. Manche Polizeibeamte kennen die Presseausweise nicht oder reagieren nicht, wenn wir sie darauf hinweisen, dass sie gerade einen Neonazi durch die Absperrung lassen."
Die Polizei schätzt dieses Problem kleiner ein. Rüdiger Holecek, Sprecher der Polizeigewerkschaft sagt zwar, dass es für die Einsatzkräfte manchmal schwer ist, schnell zu entscheiden, ob beispielsweise jemand mit Jugendpresseausweis durch die Absperrung darf. "Aber der Presseausweis war nie ein Passierschein." Holecek wiederholt mehrfach, dass er den Missbrauch schon lange kennt, von linken und rechten Randgruppen.
Drohungen, Schubsen und Creme
Steiner schätzt, dass auf den Großdemonstrationen regelmäßig rechte selbsternannte Journalisten arbeiten. "Es gibt keine Demonstration, wo wir Journalisten nicht mindestens zehnmal fotografiert werden." Dazu kommen Drohungen, Rangeleien, Neonazis stellen sich vor die Kameras oder schmieren Creme auf die Objektive. "Erst im Sommer letzten Jahres wurde ich mit einer Fahnenstange angegriffen. Die Polizei ermittelt derzeit wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den Neonazi", sagt Steiner. Auch ohne direkten Kontakt versuchen die Neonazis die Journalisten einzuschüchtern. "Wir werden mit Namen gerufen, um uns zu zeigen, dass man uns kennt."
Die Journalistenverbände fordern, dass der amtliche Presseausweis wieder eingeführt wird, auch die Polizeigewerkschaft begrüßt das. Im Koalitionsvertrag kündigte die Regierung an, eine Initiative der Bundesländer für den amtlichen Presseausweis zu unterstützen. Doch noch ist nicht klar, wann die Initiative umgesetzt wird. Die rechte Szene hat schon angefangen, sich für Demonstrationen am 1. Mai zu organisieren. Der Journalist Steiner erwartet, dann wieder auf selbsternannte Journalisten zu treffen.