Knapp 500 Meter. Zwei Straßenecken. Der Schulweg von Maria J. ist kurz. Gegen 7.10 Uhr verlässt die Siebenjährige die Wohnung ihrer Eltern in Haldensleben bei Magdeburg. An diesem 3. November 1995 wird ihre Tante Andrea 26 Jahre alt. Maria freut sich auf die Feier.
„Vergiss nicht, mich von der Schule abzuholen, damit wir gleich zum Geburtstag können“, mahnt sie ihre Mutter. „Bestimmt nicht“, verspricht Bürgit J. und sieht ihrer Tochter nach.
Maria geht über den Zebrastreifen, die rotblonden Zöpfe wippen mit jedem Schritt. Sie trägt ihre nagelneuen Turnschuhe, auf die sie so stolz ist, weil sie an den Fersen blinken.
Bürgit und Klaus J. haben lange überlegt, ob sie ihr Nesthäkchen allein zur Schule gehen lassen sollen. Doch die Eltern – der Vater ist Monteur, die Mutter trägt Zeitungen aus – wollen Maria zur Selbstständigkeit erziehen, so wie die älteren Töchter Mandy, 14, und die ein Jahr jüngere Monika. Außerdem sind es ja nur zwei Straßenecken. Und der Weg ist alles andere als einsam.
Er führt vorbei an Wohnblocks, Hunderten von Fenstern, die zur Straße gerichtet sind. Einer Bäckerei, in der die Leute morgens Brötchen holen. Und einer Großbaustelle, an der Maria auch an diesem Morgen noch vorbeikommt.
Sie hat es fast geschafft, nur noch einmal links abbiegen, ein paar Meter, und sie ist auf dem Schulhof. Da holt ein ungepflegter Mann mit hoher Stirn, Schnauzbart und pockenartigen Narben das Mädchen ein, greift es bei der Hand. „Lass mich los! Ich muss zur Schule“, schreit Maria.
Der Mann zerrt sie fort. Zwei Jungen beobachten die Szene; sie halten ihn für Marias Vater.